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Topkapı

Den Topkapı-Palast kannte ich bereits aus Köln-Bilderstöckchen. Es handelt sich dabei um einen gleichnamigen Döner-Imbiß unterhalb der beiden Hochhäuser, bzw. eine Pizzeria, die ich nie betreten habe, weil mir hinter den verglasten Scheiben eine Spur zuviel hüzün, die türkische Tristesse, lauerte. Als ich wenige Tage vor meiner Abreise nach Istanbul an den Hochhäusern von Bilderstöckchen vorüberradelte, erinnerte mich das Namensschild des Grill-Restaurants an den wunderbaren Spielfilm Topkapi mit Melina Mercouri, Maximilian Schell und Peter Ustinov, den ich, kaum in Istanbul angelangt, im Netz anschaute. So kam es, daß ich den originalen Topkapı-Palast mittels eines raffinierten Zeitsprungs zuerst im Jahre 1964 sah.

Der Film beginnt mit einer psychedelisierten Jahrmarktszene, sowie einer Führung durch das Serail. In beiden Auftaktszenen stellt Melina Mercouri sich als Diebin vor, die den berühmten (oder erst durch den Film richtig berühmt gewordenen) smaragdbesetzten Dolch aus der Palast-Schatzkammer zu stehlen beabsichtigt. In einer Reihe schnell geschnittener Bilder folgt ein Istanbul-Mosaik, das mich in diegleiche Stimmung wie „Zorn des Meeres“ von Yaşar Kemal versetzte: überladene Lastenträger auf der alten Galatabrücke, Holzhäuser und pittoreske verbrechentriefende Bosporusecken in träumerisch verschwommenem Technicolor – klassische Mosaiksteine, parfümiert mit aufregenden Abenteuerdüften, Mosaiksteine, die im heutigen Stadtzentrum rar geworden sind und die mir bereits zu Beginn meines Aufenthalts zu einer wehmütigen Erinnerung verhalfen, einem herzhaften Trugbild, einem Vorab-Abziehbildchen, das ich hinterher in meinen Setzkasten mit den besterhaltenen Klischees aus aller Welt aufnahm.

Regisseur Jules Dassin zitiert in Topkapi fortab sein Meisterwerk Rififi, Peter Ustinov glänzt in der Rolle des schmierigen Schmocks, Melina Mercouri gibt die gierende Sexbombe mit rollenden Lippen und rauher Lache, Maximilian Schell („das muß doch irgendwie gehen“) das Schweizer Pfadfinder-Gentleman-Genie, der Plot entwickelt sich getragen, aber voller Wortwitz, einmal fällt auf Deutsch das mir bis dato unbekannte Schimpfwort „Scheißkopf“. Während eines großen Öl-Ringkampf-Fests macht sich die Diebestruppe auf den Weg zum Palast, um in gewitzter (und später in Mission Impossible adaptierter) Manier besagten Smaragddolch zu stehlen. Als ich einige Wochen später den Topkapı-Palast besuchte, mußte ich ständig auf die Dachkonstruktion schauen, in der Hoffnung, dort heutige Outlaws bei Kletteraktionen zu erblicken und der Schauspieler Ünal Silver erzählte mir, daß er als Junge bei Topkapi als Statist mitspielen durfte, weil er in Drehort-Nähe aufgewachsen war: „Ich bin da in irgendeiner Szene zu sehen, wie ich aus dem Bild laufe.“

Am Filmende verrät eine verirrte Palmtaube die Diebe, eine Pointe ganz nach meinem Geschmack, wo ich den Vögeln in Istanbul doch so ziemlich alles zutraue, weil meiner sturen Ansicht nach sie (und nicht Bürgermeister Kadir Topbaş) die Stadt regieren. Und gehört ihnen nicht längst alles, wonach die Menschen streben? So prüfte ich in Istanbul, das darf man keinem Vogel erzählen, Dutzende Aussichtspunkte und befand sie für gut. Die edelsten aller schönen Aussichten bietet zweifellos der Topkapı-Palast. Das Marmarameer und den Bosporus zu Füßen, den Seerosenteich und Prinzleins Bolzplätze, ließ ich unter der Goldkuppel des Fastenbrechen-Pavillons meine Gedanken zu sultanischen sich aufblähen: ungeheurer Besitztum, der unter Hauen und Stechen verteidigt und ausgeweitet werden muß, Angst und Allmacht, Kindermord und lyrische Mondnächte. Der Gedankenturban wurde mir schnell zu drückend und so lustwandelte ich davon und zerstreute mich, dieweil Gewitter übers Meer eilten, in den Palasthöfen.

Faszinierend fand ich neben der unübertrefflichen Lage des Serails seine kalligrafischen Kachelarbeiten, denen auch ohne Kenntnis der arabischen Schriftzeichen Bedeutungen zu entnehmen waren: verschlungene Sounds von einiger Göttlichkeit, gedrechselte Pegelschläge menschlicher Verzückung. Nie zuvor habe ich schönere Schriftkunstarbeiten gesehen. Im Beschneideraum ereilte mich die perverse Vorstellung eines riesigen Haufens Vorhäute. (Nach den endlosen Zeremonien würden sie in Schubkarren geschippt und zu geheimen Zwecken an schwierige Orte verbracht.) Im höchst geschmackvollen Bibliothekspavillon lungern langgestreckte Diwane und leergeräumte Regale („das paßt jetzt alles auf einen USB-Stick“) – was muß das für ein Lesen gewesen sein!

Die Kleinodien des osmanischen Nationalschatzes sind in abgedunkelten Vitrinen inszeniert, an denen die Besucher vorüberdefilieren müssen. Natürlich, den Dolch muß ich nun, wo ich den Film schon kenne, im Original sehen, und bitteschön auch den Löffelmacher-Diamanten, der einst auf einem Istanbuler Müllhaufen gefunden worden sein soll. Beide Exponate blinken kräftig! Bald stellt sich vor lauter Juwelen, Schmuck und Zierrat Übersättigung ein, zuviel Reichtum vertrage ich einfach nicht und betrachte stattdessen lieber die Menschen wie sie die effektvoll ausgeleuchteten Vitrinen betrachten, während ihr Strom mich hinfortzieht. Plötzlich stehe ich vor einem Schaukasten, in dem eine Art bronzelegierter Stock oder Ast zu sehen ist. Der Stab Mose lautet die Beschriftung. Kein Wort mehr, keines weniger. Ich bin baff. Mit diesem Werkzeug hätte ich an dieser Stelle nicht gerechnet. Könnte ich nur auf den Wunderknüppel zugreifen, würde ich umgehend die Menschenmassen teilen, um dem Palast schnellstmöglich zu entkommen. Doch er steckt hinter Panzerglas. Also tipple ich weiter im Gänsemarsch Richtung Ausgang. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich im Vorübertippeln sogar noch ein paar Bartstoppeln des Profeten gesehen.

Vom Essen und Trinken

Als Angehöriger des lyrischen Prekariats mit zweifelhaftem Budget ausgestattet, bin ich in Istanbul nicht sonderlich viel ausgegangen. Was Mahlzeiten belangt, agierte ich weit überwiegend als Selbstversorger in meiner kleinen, mäßig ausgestatteten Küche. Viele Zutaten der türkischen Küche hatte ich bereits in den vergangenen Jahren in meinem Kölner Kaufsaray gefunden und zuhause getestet, andere, etwa Hammelhoden, mochten sie auch noch so halal geschlachtet sein, ließ ich bis heute aus. Fisch ist in Istanbul günstiger als Fleisch, das freute mich und die Händler am Fischmarkt von Karaköy. Durch mein unsichtbares Auge erblickte ich mich regelmäßig mit einem Säckchen fangfrischem Bonito oder Garnelen beim Erklimmen des Galatahügels. Was mir sonst noch besonders gefiel:

– İçli Köfte, konisch auslaufende, frittierte Bulgurkugeln, mit Fleisch und Zwiebeln gefüllt. Google Translate fand die schöne Übersetzung „Empfindlicher Klops“. Schwer ergründliche, sehr orientalische Gewürzmischungen runden diesen wunderbaren Snack.

– Çerkez Tavuğu, das berühmte tscherkessische Huhn, kommt als pürierte Paste aus Hühnerfleisch, Walnüssen, Paprika, sowie weiteren Grundzutaten und Gewürzen. Eine perfekte Vorspeise.

– Midye Dolma sind gekochte und mit gewürztem Reis gefüllte Miesmuscheln. Sie werden mit einem Spritzer frischer Zitrone serviert. Die Muscheln können am Straßenrand stückweise geordert werden, der Verkäufer präpariert Tier um Tier und reicht die geöffneten Schalen einzeln an.

– İmam Bayıldı sind fein mit Gemüsen und Gewürzen gefüllte, geschmorte Auberginen. Sie werden als Vorspeise oder Beilage gereicht und schmecken einfach nur großartig. Der Name des Gerichts bedeutet denn auch „Der Imam fiel in Ohnmacht“.

– Tantuni: in mächtigen Spezialpfannen gegarte, raffiniert geradeaus geschärfte Rind- oder Kalbfleischwürmchen mit Tomaten, Zwiebeln, Petersilie in Yufkateig gerollt. Dazu wird Salat aus Rauke, Brunnenkresse und Sauerampfer gereicht. Sollte eines Tages den deutschen Döner ablösen.

Von türkischem Döner, dessen Machart sich vom deutschen in zentralen Punkten unterscheidet, hielt ich mich fern, zumal mein Nachbar einer schweren Dönervergiftung erlag. Zwar feierte er nach zwei Tagen bereits Wiederauferstehung, doch in der Zwischenzeit machte er einen wahrlich gespenstischen Eindruck. In den türkischen Döner gelangt eher wenig Fleisch (und doch genug, um zu überschlagen, daß die billigen Stückpreise ungute Rückschlüsse auf die Grundqualität nahelegen), zumeist vom Huhn, desweiteren Fritten, Gewürzgurken, Mayonnaise und ähnliche Überraschungen. Das Konkurrenzprodukt ist ein horizontaler Spieß, Kokoreç. Um einen Fettkern werden Lammdärme gewickelt und angeröstet. Sind die Darmschnüre außen schön kross, werden sie abgehobelt, zerkleinert und mit Zwiebeln und Tomaten serviert. Obgleich ich als Kind durchaus Affinität zu „Sauren Nierchen“ und insbesondere zu Hühnerherzen besaß, halte ich mich heute bei Innereien meist zurück.

Was ich als Kind hingegen ablehnte, war Milchreis, den ich in Istanbul in seiner Ausprägung als Sütlaç beinahe täglich mit Begeisterung löffelte. Überhaupt war ich angetan von den Desserts: Tavuk Göğsü und Kazandibi sind klebrige Reismehlpuddings, im erstern Fall mit Hühnerfasern untermengt. Berichtet wurde mir von Aşure, einer suppen- oder auch klumpenartigen Süßspeise aus Bohnen, Kichererbsen, Rosinen etc, die zu Festanlässen bereitet würde und das erste Gericht, das Noah nach Verlassen der Arche seinerzeit als Resteessen verteilt habe, gewesen sein soll. Ganze Ladenzeilen widmen sich in Istanbul der Süßwarenversorgung. Es gibt europäisch anmutende Zuckerwerkläden mit Profiteroles und Tiramisu sowie grell überzogenen, mit heftigen Geliermitteln gesteiften Törtchen, und dann wieder Baklava-Bäcker mit ihren sirupgetränkten Auslagen und Lokumstände, durch deren vielfältige Proben sich zu naschen einen schönen türkischen Sport vorstellt.

In meiner Straße hatte gerade ein Restaurant eröffnet, dessen Programm die türkische Variante von „Futtern wie bei Muttern“ darstellte. Dort gab es Linsen-, Brennessel-, Joghurt- und Hackbällchensuppen mit oder ohne Reiseinlage, und zu den gefüllten Gemüsen auf Wunsch einen kräftigen Schlag Naturjoghurt, ein Produkt, auf das die Türken sich deutlich besser als wir Deutschen verstehen. Das Restaurant unterschied sich von einem klassischen türkischen Arbeiter-Schnellimbiß (Lokanta) eigentlich nur aufgrund seiner ökomensalastigen Einrichtung und dem entsprechenden Publikum.

Worauf die Türken sich deutlich schlechter als die Deutschen verstehen, ist Bier. Auf der Zutatenliste des türkischen Premium Pils Efes ist der verdächtige Begriff Şeker (Zucker) gelistet, auf dem Wein lasten 70 Prozent Steuern, das heißt ein türkischer Wein um 10 Euro ist ordentlicher deutscher Supermarkt-Ware um 3 bis 4 Euro vergleichbar: der türkische Weinbau findet statt und befindet sich im cabernetkopierenden, vanilligen Aus- und Aufbau. Was ich nicht zu testen bekam, war das Wintergetränk Boza, ein leicht vergorenes Bulgursäftlein, über das sehr widersprüchliche Aussagen bestehen. Dafür probierte ich Şalgam, einen recht präsenten, angeblich höchst gesunden, fermentierten Steckrübensaft mit kräftiger Chilinote, der zu Fisch, Fleisch und Rakı getrunken wird, wobei er halbwegs Sinn macht – ohne Fisch, Fleisch oder Rakı ist er höchst entbehrlich. Salep schließlich ist ein Heißtrunk auf Basis zerstoßener Knabenkrautwurzel und, darin wohl Boza ähnlich, von unterschiedlichster Konsistenz und Geschmack (meine Nachbarin meinte: spermaartig), ich erwischte auf der Fähre eine vanillemilchige Version, die nach Fertigmischung roch und wohl für Kinder gedacht war.

Vom Fliegen

Beeindruckt hat mich die explosive osmanische Luftfahrtgeschichte und ihr Verpuffen in den Angsträumen der Macht. Ihre Existenz war mir völlig unbekannt. Meiner Schulbildung zufolge hatten die Marken der Aeronautik im Wesentlichen Daedalus und Ikarus, Leonardo da Vinci (der auch eine nie umgesetzte Brücke übers Goldene Horn entwarf), die Brüder Montgolfier, der Schneider von Ulm, Otto Lilienthal und die Brüder Wright gesetzt – eine ziemlich westliche, und im Speziellen sehr deutsche Sichtweise. Wenn ich mich recht erinnere, war der einzige Schulstoff, der mich je mit dem Osmanischen Reich konfrontierte ein Kanongesang, demzufolge wir Erstklässler nicht zuviel Kaffee trinken sollten wie die nervenschwachen, kranken, koffeinsüchtigen Muselmanen.

Am Galataturm erblickte ich eine Bronzetafel, die den Flugpionier Hezarfen Ahmet Çelebi ehrt. Nach ein wenig Recherche fand ich die knappen Zeilen des Chronisten Evliya Çelebi, welcher Hezarfen Ahmets Flug in seinem Reisebuch (Seyahatnâme) auf 1632 datiert: „Am Anfang übte er, indem er acht- oder neunmal, den Wind nutzend, mit Adlerflügeln über die Kanzel von Okmeydanı flog. Dann, als Sultan Murat IV. von der Sinan Pascha-Villa in Sarayburnu zusah, flog er von ganz oben vom Galataturm und landete mithilfe des Südwestwinds am Doğancılar-Platz in Üsküdar. Daraufhin belohnte Murat IV. ihn mit einem Sack Goldmünzen und sagte: „Dies ist ein furchteinflößender Mann. Er ist fähig zu erreichen, was er will. Es ist nicht richtig, solche Leute zu behalten“, und sandte ihn ins Exil nach Algerien. Dort starb er.“

Auf diesen Zeilen gründet also die Legende des weltersten Interkontinentalflugs. Zwar wird dem Autor ein Hang zur Übertreibung nachgesagt und ein erfahrener Drachenflieger, den ich auf der Turmbrüstung um seine Einschätzung bat, zeigte sich überaus skeptisch, was das Erreichen der anderen Bosporusseite mit einem modernen Gleitschirm beträfe, doch ist Hezarfen Ahmet Çelebi aus dem türkischen Volksflugempfinden nicht mehr wegzudenken. Die illegalen Ornithopter-Händler von Kuledibi variieren seine Geschichte gegenüber den Touristen, nicht zuletzt auch auf Basis des Spielfilms „Istanbul Beneath My Wings“ (İstanbul Kanatlarımın Altında) von Mustafa Altıoklar.

Der Film von 1996 packt die historische Notiz in eine erweiterte Dramaturgie: Hezarfen Ahmet gelangt über eine venezianische Sklavin an Leonardo da Vincis verschlüsselte Vogelflugstudien, dieweil Sultan Murat IV. die halbe Stadt abschlachtet, um die ausufernde, beinahe kölsch-katholisch wirkende Dekadenz einzudämmen. Istanbuls Sittenbild äußert sich in Bootsnächten auf dem Bosporus, Gelagen, Intrigen, taumelnden Omar Khayyām-Zitationen und wohlbekannten Möwentönen. Die europäische Inquisition spiegelt sich in Drangsalierungen Hezarfens (der Beiname bedeutet in etwa „Vielgelehrter“). Der geistliche Berater des Sultans hält Flugversuche für gottesfremd. Hezarfen kommentiert die Nachricht von Galileis Prozeß: „Ein Wissenschaftler darf nicht widerrufen!“ Sultan Murat IV., der mit Massenexekutionen gegen Opium-, Alkohol-, Kaffee- und Tabakkonsum vorging, vermeldet der Abspann süffisant, soll mit 27 Jahren an Leberzirrhose gestorben sein.

Doch noch einmal zurück zum Anfang. Oben erwähnte Westentaschen-Ahnenreihe der Luftfahrt legt auffällig viele innerfamiliäre Interessensparallelen nahe, zumal auch Otto Lilienthal gemeinsam mit seinem Bruder Gustav an Flugmaschinen bastelte. So gesehen erstaunt es wenig, daß Ahmet Çelebi einen flugbegeisterten Bruder besaß: Lagâri Hasan Çelebi. Äußerst erstaunlich ist dessen Leistung. Ein Jahr nach der Bosporus-Überquerung seines Bruders Ahmet, schoß sich Lagâri Hasan als welterster Rocketman gen All. Er wolle mit Jesus im Himmel sprechen, gab er als vernünftiges Grundziel an. Um es zu erreichen, soll er einen raketenartigen Spezialanzug gefertigt haben, den er mit Schwarzpulver füllte. Innert 20 Sekunden ging sein Flug von Sarayburnu 300 Meter steil in die Lüfte, behauptet die zeitgenössische Berichterstattung (erneut: Evliya Çelebi). Den anschließenden Fall in den Bosporus soll Lagâri Hasan mit einem Schirm abgedämpft und überlebt haben. Auch er wurde zunächst vom Sultan belohnt und dann verbannt.

Woran erinnert mich all das? Ist es nicht am Rhein neuerdings üblich, daß zu Christi Himmelfahrt vatergewordene Jesusse, wenn schon nicht in die Stratosfäre, so doch, von Spirituosen beflügelt, in außergewöhnliche geistige Höhen aufsteigen, um mit salafistischem Bodenpersonal zu debattieren? Oder bringe ich da gerade etwas durcheinander? Der Himmel über Istanbul ist heuer jedenfalls nicht mehr von Raketen- und Vogelbrüdern bevölkert. Es patrouillieren dort Möwen und gelegentlich Hubschrauber, während im Hintergrund ein majestätischer Airbus vom Sabiha Gökçen Flughafen abhebt oder auf dem Atatürk Flughafen landet. Urbane Fluggefühle stellen sich ein im Türk Balon Cafe in Kadıköy, das an schönen Tagen bis 100 Meter über den Meeresspiegel emporsteigt, ein wenig auch in den Seilbahnen vom Maçka Park und in Eyüp, stets jedoch auf meiner abendlichen, vogelumkreisten Dachterrasse. Und manchmal sehe ich von dort schaudernd eine Sternschnuppe in den Bosporus fallen und einen überflüssigen Fisch erschlagen, der drunt im Wasser zuviel Unsinn gepredigt hat.

Schlendern durch Istanbul (2)

„Die Arbeit fängt der Muselmann
Moschee in Allah Ruhe an“
Michael Schönen

Daß in Istanbul alles Istanbul ist, habe ich begriffen, nachdem Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Städten zwar zahlreich ins Auge fielen, die Vergleiche auf den zweiten Blick jedoch wenig standhielten. Orient und Okzident prallten in dieser Stadt aufeinander, heißt es. Das mag sein, ich spürte jedoch keinen Aufprall. Istanbuls Straßen bestehen vielmehr aus Geschiebe. Gemischter Gemengelage. Gedrängel. Selbst ein paar tausend Kilometer tiefer im Osten sind Großstädte längst teilverwestlicht. Viel mehr als diese oft beschworene und dabei kaum je über Klischees erhabene „Kluft der Kulturen“ (wie ich sie von klein an zwischen Badenern und Schwaben kenne) interessierten mich als literarischen Gastarbeiter Berichte über Callcenter, die sich in Istanbul verstecken, und deren Mitarbeiter, zurückgewanderte Deutschtürken, unter deutschen Aliasnamen deutsche Haushalte „aus Fulda“ anrufen, um „Marketing“ zu betreiben, eine Situation, bei der, grob formuliert, im Osten Westen auf Westen prallt. Nein, falsch! Geschiebe trifft es auch hier besser als Aufprall. Im Geschiebe malmen mindestens vier Dimensionen und verspotten die übliche Berichterstattung.

Der erste Moscheebesuch meines fortgeschrittenen Lebens war eigentlich bereits der anderthalbste. Denn bevor ich die Yeni Cami betrat, war ich in der Hagia Sophia, die lange Zeit als Moschee diente und nach Ansicht einiger besonders religiöser Studenten bald auch wieder dienen soll. Lange habe ich Moscheebesuche aufgrund der Zwangsvorstellung abgelehnt, mir könnten währenddessen die Schuhe geklaut werden. Im Vergleich zu meiner restlichen Kleidung trage ich ziemlich teure Schuhe, sie haben mich über unzählige Asfaltkilometer begleitet und meine Liebste hat sie mir geschenkt, was sie mir doppelt und dreifach wertvoll macht. Hinzu kam, daß viele von Straßenhändlern angebotene Schuhe stark nach den Schuhablagen der 1001 Istanbuler Moscheen rochen. Natürlich erwies sich meine Zwangsvorstellung als irrig: jedermann darf seine Schuhe in die Moschee mit hinein nehmen, nachdem sie ausgezogen und in einem Beutel verstaut sind.

Das Innere der Yeni Cami, welche der Hagia Sofia nachempfunden ist, vermittelte eine religiös grundierte Gelassenheit, wie ich sie in Kirchen kaum je gefunden habe. Touristen wird auf Spanisch mitgeteilt, in welchem Bereich sie zurückbleiben sollten. Für meinen Gebotsübertritt interessierte sich kein Mensch: ich begab mich in eine lauschige Fensternische, ließ mich auf dem wunderbar komfortablen Teppich nieder und wartete, ob Geist auf mich kommen würde. In anderen Nischen saßen Betende, aus der Kuppel senkte sich ein Kronleuchter über den gesamten Hauptraum, das einströmende Licht verteilte sich in schönster Gleichmäßigkeit. Dem Geist waren jedenfalls Tür und Tor geöffnet. Bald erschien ein Rezitator und gab einen Sermon von sich, dessen melodische Performance einer gewissen Eintönigkeit nicht entbehrte, die sich dennoch positiv gegen nahezu alles abhob, was ich an Vergleichbarem aus deutscher Priesterkehle je zu Ohren bekam. Als ich aus der Moschee trat, sah ich den Geist als Möwe sich silbrig im Sonnenglast lösen.

Durch Zufall, ich folgte einfach einer deutschsprachigen Meute, die in der Syrischen Arkade (Suriye Pasajı) einen Treppenaufgang stürmte, geriet ich in einen stuckverzierten Siebenzimmer-Leerstand in der obersten Etage. Angekommen, bemerkte ich: die von der Meute avisierte Wohnung gehörte meinem Vermieter. Der dort hinter einem Tresen stand und sich über die Meute freute. Mein Vermieter ist einer der bekannteren Wohnungsspekulanten Beyoğlus, ein Motor der örtlichen Gentrifizierung, deren Auswirkungen er angeblich, in Anverwandlung klassischer Doppelmoral, bedauert. Gerne sähe er sich als Mäzen wahrgenommen, doch hat ihn bei Mäzenatentaten, die diesen Namen verdienten, noch selten jemand erwischt. Als ich den Beste Lage-Leerstand betrat, tippte ich auf eine vermakelte Wohnungsbesichtigung mit champagnösem Abschluß. Tatsächlich gab es eine Lyriklesung, d.h. stilles Wasser und Verweilzeit für eine zähe halbe Stunde. Bei Lyriklesungen, diesen von allseitiger Ahnungslosigkeit gefährdeten, sensitiven Darbietungen, schaue ich mir zur Ablenkung meist die Gesichter des Publikums an, entweder, weil mein Blick von der Bühne auf eben dieses Publikum fällt, oder um herauszufinden, was um Gottes Willen die Leute zu den Auftritten meiner Kollegen treibt.

Während des lyrischen Intermezzos mußte ein Satz über Amseln gefallen sein; es zog mich plötzlich mit aller Macht hinfort. Ins Hoheitsgebiet der Vögel. Dazu erklomm ich die Dachterrasse meines Wohnhauses und sann, wem wohl der Grund unterm Arsch weggentrifiziert worden war für meinen efemeren Bosporusblick. Ein quietschbunter Ornithopter querte meine Gedanken und landete im Oleander. Auf meiner Dachterrasse stehen nämlich in gewaltigen Tonnen Jasmin- und Oleanderbüsche. Wenn ich diese Büsche imitiere, werde ich bald von Spatzen angeflogen. Ich mache das nur sehr selten. Genieße vielmehr und viel lieber die Nähe zum Himmel, den supersokağischen Raum, erfüllt von Vogellauten, Schiffshupen, von Hauswänden gebrochenem Gebetsrufwaber und gelegentlichem Gewitterdonner. Drei Möwen jagten nun unter triumfierendem Gelächter einen passierscheinlosen Fischreiher. Brieftauben flatterten durch ihre Trainingsschlaufen. Mauersegler stürzten wie irre durch die Lüfte und stießen schrille Sriieps aus. Von der Gasse her maunzte es. Marie T. Martin schrieb einmal, die Katzen seien die heimlichen Besitzer Istanbuls. Ich glaube das nicht. Was sollen „heimliche Besitzer“ sein? Die Seelen der Obdachlosen und Weggentrifizierten? Die Katzen trauen sich garnichts gegen die Möwen, auf deren Dung die Stadt gewachsen ist. Und Möwen können, ganz im Gegensatz zu Katzen, fliegen, ohne dafür zuerst von Autos überfahren werden zu müssen.

Galatabrücke

Ich hasse Leute, die immer so schlendern“, monierte eine leichtbekleidete schwäbische Touristin auf der Galatabrücke (Galata Köprüsü). „Ich hasse nebst deinem gehörtötenden Akzent erstmal das chinesische Schriftzeichen-Tattoo, das auf deiner Schulter unter dem einseitigen Trägerchen hervorlugt, obwohl es „Waschmaschine“ bedeutet… – und weiter will ich sicherheitshalber in dieser grundentspannten Brückensituation garnicht denken“, dachte ich da. Und dann: „Wir Menschen! Zur Liebe geboren genau wie zum Haß, wobei uns im Fadenkreuz der Bedeutungsverschiebungen der Postmoderne das eine schon mal ganz wie das andere dünkt.“

Solch inspirierten Gedanken hing ich nach, als die Brücke eklatant zu schwingen begann. Unter mir riß ein Abgrund auf, ich kippte in die Knie, um im nächsten Moment höchst angenehm eine Spur himmelwärts gefedert zu werden. Dasselbe Gefühl, wie wenn ich als Kind über ein Trampolin lief. Schön und gut, doch durfte eine Brücke dermaßen schwingen? Sogleich fiel mir das imposante Foto der erdbebenverdrehten Stelzen-Autobahn von Kōbe ein. Ich schaute mich um. Was taten die Brückenangler? Alle siebenhundertdreißig angelten unbesorgt vor sich hin. Womöglich nutzten sie die Schwingungen sogar, um sie auf ihre Köder zu übertragen. Mein Schreck entglitt als Möwe mit gespreizten Flügeln und einem scharfen Blick in die Ferne. Der Tod, dessen klopfende Knöchel ich soeben vernommen zu haben meinte, würde vor mir noch zahllose Sardellen und Blaubarsche einbestellen. Schnell justierten sich meine Gedanken um.

Zum Beispiel auf die Brückenverrückte, die geifernd und keifend durch die Menge wuschte, als ich zum ersten Mal das Goldene Horn zu Fuß querte und wie sie sich in eine historische Linie von Brückenverrückten einordnen ließe, bzw von Verrückten, die irgendwann nicht mehr auf die Galatabrücke durften, weil ihr Auftreten, oder noch schlimmer: ihr Zusammenprall hoch überm Wasser zu viele Gefahren beschworen hätte. Heute war in dieser Hinsicht nicht viel los. Doch erinnerte ich mich an Orhan Pamuks Kindheitslektüre einer „Kurioses in Istanbul“-Geschichte mit Auftritt zweier natürlicher Antipoden: einer Frau, die zu jeder Jahreszeit soviel Kleidung übereinander trug, wie nur auf ihren Körper paßte und eines Mannes, der immer splitternackt einherlief. Beide bevorzugten für ihre Spaziergänge die Galatabrücke, waren sich spinnefeind und gingen, wenn sie sich erblickten, sofort aufeinander los. Pamuk nennt desweiteren den Langen Ömer, einen Riesen, der als Losverkäufer zum Brückenoriginal wuchs und Yaşar, einen gefangenen Seehund, der es mit seinen Kunststückchen auf der Seite von Eminönü zu Ruhm brachte. Ich dachte dabei an Willy, den friesisch freien Seehund im Hörnumer Hafenbecken und daß ich keinen einzigen Riesen, aber viele Zwerge die Galatabrücke passieren sah.

Wer in einem der zahlreichen Fischrestaurants in der Halbetage der Galatabrücke mit Blick aufs Goldene Horn bzw dessen Mündung in den Bosporus sitzt, blickt gleichzeitig auf und durch einhundertsieben der tausendzweiundzwanzig Angelschnüre, welche von beiden Brückenseiten herabgeworfen schillernde Vorhänge durchsichtigen Kunstgewebes spinnen, an denen von Zeit zu Zeit, in schönen Abständen gereiht, bis zu acht Sardellen pro Schnur emporklettern, ein lebender Wandteppich filigranster Art. Die Winkel Galatas zentrieren und öffnen sich in Sonnenwellen, die Architektur funktioniert wie das Entgräten einer Goldbrasse. Ich gehe an den Restaurant-Einwinkern vorüber und denke an Orhan Velis Gedicht „Galata Köprüsü“, in dem die Passanten als Ruderer, Muschelsammler, Wolken, Vögel, Fische, Bojen und Dampfboote mit eingeknickten Schornsteinen, als deren Hupen und Qualm beschrieben sind, ein wunderbar leichtfüßiges Gedicht, obschon es von den Sorgen des Alltags handelt.

Am Fähranleger von Karaköy befindet sich ein Fischmarkt. Wer den Fisch nicht selber zubereiten will, kann ihn direkt an den Marktständen grillen lassen und verspeisen. In den Auslagen stapeln sich verstummte Seezungen, glänzend glatte Bonitos und der schmackhafte Wolfsbarsch. Der Steinbutt sieht aus, als sei es ihm zeitlebens mißlungen, alle Sprechblasen loszuwerden, die ihm wirklich am Herzen lagen. Manchmal röchelt er noch platzende Frasen in großen Plastikeimern vor sich hin. Ich habe oft die letzten Worte der Fische notiert und gerne dort eingekauft und die Händler begannen bald, mich per Handschlag zu begrüßen. Auf dem sonnenerhitzten Trottoir trocknen sich Jungen in Badehosen nach ihren Sprüngen ins quallige Schmutzwasser des Anlegerbeckens. Dort wo sie eben noch schwammen, linst jetzt ein Kormoran den Galatahügel hinauf. Was denkt er von all den verfallenen Gebäuden dort, welche aus dieser Perspektive die Neubauten zu stützen scheinen? Oder hat er nur Fisch im Sinn? Anstatt genaueres über den Grad seiner Kultiviertheit zu verraten, taucht der Kormoran einfach ab.

Mimikry

In meinen Istanbuler Anfangstagen mußte ich mich daran gewöhnen, nicht ständig den Bosporus mit dem Rhein zu verwechseln. Insbesondere mit Kölner Bekanntschaften war schnell „von der anderen Rheinseite“, bzw der „Schääl Sick“ die Rede, wenn wir vom asiatischen Teil der Stadt sprachen und gleich bei meiner ersten Istanbullektüre fand ich heraus, daß solche Redensarten nicht erst seit gestern kursieren. Der französische Reiseschriftsteller Théophile Gautier hat in seinem Buch „Constantinople“ den Istanbuler Stadtteil Kadiköy bereits vor 200 Jahren mit Köln-Deutz verglichen, weil beide zwar „auf der falschen Seite“ lägen, dafür jedoch den beachtlichen Vorteil böten, das jeweilige Stadtpanorama zu überschauen.

Vergleiche und Verwechslungen drängten sich in Istanbul zahlreich auf. Vor allem, als die Eigenarten der Stadt für mich zwar spürbar, aber noch nicht faßbar waren. So querte ich in der Nacht meiner Ankunft ein Aquädukt, das mir wie eine optische Täuschung vorkam, weil ich es aus purer Fahrlässigkeit sonstwo, nur nicht in Istanbul erwartet hätte, dieweil der blaue Leuchtflitter am Straßenrand mich in westafrikanische Tropennächte versetzte. Wo genau war ich soeben gelandet? Als der Flughafenbus die beleuchteten Moscheen der Altstadt passierte, schoß mir durch den Sinn, welch ein Aufhebens die Kölner um ihre einzige Kathedrale machen. Als es auf den Taksim zuging sah ich mich plötzlich am Nguyễn Huệ-Kreisverkehr in Saigon, nur daß statt der dortigen Mopeds hier keuchende Yellow Cabs die Straßen bis knapp vor Stillstand bekrochen. Da war rasanter Weltstadtmix, Orient und Dunkelheit, aus der, all meinen Tropengefühlen zum Trotz, noch in derselben Nacht Frau Holles beste Schneeflocken herabsinken sollten.

Auf Weltstadt folgte Provinz. Am nächsten Morgen, als ich zu Fuß an den dicht bei dicht stehenden Sardellen-Anglern auf der Galatabrücke vorüberschlenderte, fielen mir sofort ihre Kollegen am Kieler Hafenbecken ein, samt ihren Klagen wie selten die Ostsee-Sprotte geworden sei. Die Makrelen für die Fischbrötchen, die mit zünftig-oktoberfestigem Osmanen-Bowhow am Anleger von Eminönü verkauft werden, stammen zum Großteil frisch aus Norwegens Fjorden. Daß Oceanliner mitten durchs Stadtzentrum fahren, hatte ich das erste Mal im südfranzösischen Städtchen Sète erlebt und erinnerte mich in einem maritimen Sprung an den Gondoliere auf der Brüsseler Straße in Köln, der in Ermangelung touristisch besuchter Kanäle seine Gondel kurzerhand auf Rädern durch das Belgische Viertel schob und dazu einen der grausigsten Gesänge anstimmte, der je auf Venezianisch versucht worden sein dürfte. Obgleich ich in den Straßen häufig brüllende Händler oder auf ihren Sohlen die Hänge hinabschliddernde Müllsammler entdeckte, scheinen mir die Istanbuler im Kern, das sage ich als Wahlkölner, zurückhaltende Menschen. Selbst nach großen Fußballsiegen feiern sie eher mechanisch, aber laut und ihre Freudenschüsse sollen jede Saison einige unvorsichtige Balkonnutzer töten.

Der Ruhrpot(t) hat sich gleich selbst als Sprayschablone importiert, Kiefern bleibt!-Spuckis vermitteln Düsseldorfer Heimatgefühle. Das von meiner Dachterrasse jeden Abend zu beobachtende Feuerwerk erinnert an Las Vegas, die Bosporusöffnung zum Marmarameer an Konstanz und den Bodensee – letzteres behauptete zumindest eine Begleitung, die sich nur wenige Minuten später auf einer der Prinzeninseln ob der Pinienwäldchen auf Mallorca wähnte. Auf der Istiklal Caddesi wird ebensoviel Deutsch gesprochen wie auf der Schildergasse. Welche der beiden Flaniermeilen welcher nachempfunden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Aber nein, das Vorbild beider ist ja Paris. Die Abflußrinnen am Fischmarkt von Karaköy ermunterten einen Besuch, von den Freiburger Bächle zu erzählen. Derjenige, der in diese Bächle hineintappt, heißt es, müsse in Freiburg heiraten. Ob das in Istanbul auch so sei? „Probieren Sie`s aus“, fiel mir nur ein, „wahrscheinlich verkaufen morgen dann Sie mir hier den Fisch.“

Die Außenbezirke, die ich nicht für mich erschloß, gemahnten auf dem Screen des Busfensters an extensive Vervielfältigungen von Halle-Neustadt. Das Burj al Arab habe ich gesehen, aber seinen Standort vergessen. Vielleicht ist es auch schon wieder abgerissen, das wäre nicht ungewöhnlich. Ganze Viertel verschwinden in Istanbul über Nacht, wie das legendäre Roma-Viertel Sulukule, wir kennen das von Rungholt und Vineta. Zwar ließe sich sagen, erstere Zerstörung sei Menschenwerk und zweitere Sache der Natur. Doch inwieweit lassen sich Mensch und Natur trennen? (Und falls es einen steuernden Gott gibt, dann steuert er vermutlich auch die Politiker.) Der Galataturm, hörte ich von einer Kunststudentin, sei „so ähnlich wie der schiefe Turm von Pisa, nur nicht schief“. Die ersten Wochen fühlte ich mich meist sowieso in Lissabon, Porto oder Coimbra: die Hügel, die Gassen, die Fischgerichte. Von Zigaretten ausgemergelte Männer und fantastische Süßspeisen. Nur daß die Saudade in Istanbul Hüzün heißt. Im Winter lag eine depressiv-halbstolze Stimmung über der Stadt, genau wie ich sie aus Portugal kannte. Ob sie nun im Juni immer noch vorhanden ist, kann ich aus lauter Gewöhnung gar nicht mehr beurteilen. Wahrscheinlich schon. Am Ende habe ich sie sogar verinnerlicht. Das Gewitter gestern erschien mir jedenfalls verdächtig melancholisch. Was ist überhaupt anders, wenn ich sowieso ein Anderer ist? Nach einer Weile habe ich einfach aufgehört, Vergleiche anzustellen, um das weite Feld des interkulturellen Humbugs denjenigen zu überlassen, die neu in die Stadt kommen. Ohnehin bin ich bald wieder fort. Und ein Stückchen Istanbul (als Istanbul) nehme ich dann, für keinen Zollbeamten der Welt aufspürbar, einfach mit mir mit.

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