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Hagia Sophia

Written by My Invisible Eye on . Posted in Explore, My Invisible Eye

Roland Bergère schrieb mir von seinem „Schweigenden Archiv“, für das er seit geraumer Zeit seine Erinnerungen von Kindheit an notiere, um hernach die Notate zu verleimen, und die verleimten Regalmeter mit ihren unzugänglich gemachten Informationen in Kunsträumen als schweigend-sprechende Objekte zu plazieren. Ein konsequentes Unterfangen, für das Monsieur Bergère sich auferlegte, seine Erinnerungen keinesfalls mittels harter Fakten zu trüben. So verzichtet er für die Niederschrift bewußt auf Erkundungen oder korrigierende Abgleiche mit Nachschlagewerken. Mir gefällt dieser Ausschluß von allem, was nach fragwürdiger Objektivität und langweiligen Schleifarbeiten an der Autonomie bzw Fantastik der eigenen Lebenserinnerungen riecht.

Mein Besuch in der Hagia Sophia (Ayasofya) ist nun einige Monate her, die Erinnerung an Details beginnt allmählich zu rotieren, und falls sich an dieser Stelle bereits kleine Fantastereien aus solchem Schlingern hervorschälen sollten, bleibt dem an Fakten interessierten Leser ja immer noch die Vergleichslektüre zahlreicher Quellen mit neutraler Orientierung. Ich schreibe hier von meinem Besuch einfach nur auf, was ich und wie ich es in Erinnerung habe und behalten möchte.

Als ich noch lange nicht an einen Istanbul-Aufenthalt dachte, waren mir zum Thema Hagia Sophia euforische Beschreibungen Dritter zu Ohren gekommen, wie sie in touristischer Rede über Monumentalbauten üblich sind. Die Kirche, wahlweise Moschee, sei ein außerhalb der Zeit stehendes Gemäuer. Die reiche Innenausstattung beschwöre sanfte Erblindungsgefahr. Angesichts der zentralen Kuppel solle ich darauf achten, eine Ohnmacht zu vermeiden. Alles in allem: ein architektonisches Wunder, von dem jederzeit anzunehmen war, es sei gerade dabei, wie ein überdimensionales Raumschiff ins Weltall abzuheben. Entsprechend lang seien die Menschenschlangen am Einlaß.

Das waren Empfindungen, die zu teilen ich mich vorort weitgehend außerstande fand. Am Kassenhäuschen gab es statt der in Aussicht gestellten überlangen lediglich eine allenfalls mittelprächtige Warteschlange. Kaum hatte ich das Gebäude betreten, fragte meine Begleitung mich nach dem ersten Eindruck. „Alt und kalt“, war meine Erwiderung, welche den erfragten ersten Eindruck höchstens in umgekehrter Wortfolge noch präziser hätte treffen können. Der Eindruck wurde unterlegt durch den Satz eines polyglott gekleideten Besuchers, den wir keine zwei Minuten später aufschnappten: „In Britain we`ve got Norman churches of quiet the same age, but they`re even much colder!“

Die Hagia Sophia-Geschichte, die mich im Vorfeld am stärksten fasziniert hatte, war eine, die sich auf keinerlei Quelle berief. Sie besagte, daß die Kaiserpforte aus dem Holz der Arche Noah gearbeitet sei. Also widmete ich dieser Tür mein besonderes Augenmerk. Auch betastete und beklopfte ich ihr Holz. Stand herum, und versuchte Schwingungen aufzunehmen. Arche Noah! Arche Noah! Vergeblich, es war nicht der geringste biblische Schauder zu spüren. Ich ging zu den übrigen Eingangstüren, die für weniger wichtige Menschen gedacht waren. Sie bestanden aus demgleichen Holz wie die Kaisertür. Gerne hätte ich einen Schreiner dabeigehabt, der mir hätte sagen können, welche Bäume hier verwendet worden waren.

Im Hauptschiff bewegten sich verschiedene Menschengruppen wie auf einer Stehparty eines mondänen Botschaftsempfangs. Über ihnen schwebten Kronleuchter seltenen Ausmaßes und vermittelten den Eindruck gigantischer Quallen in einem Meer aus Raum und Licht. Ich selber fühlte mich wie ein Krebs auf dem Meeresboden, dem seine Heimat langsam ungeheuer wird. Ich krebste an den Rand. Krebste einen Gang empor. Der Gang führte auf eine Galerie. Zwei weiter oberhalb gelegene Galerien blieben gesperrt. Von dieser begehbaren, seinerzeit für Kaisers reservierten Galerie fiel der Blick auf riesige kreisrunde Schilder schludriger Machart, auf denen golden kalligrafierte Suren über dunklem Hintergrund prangten, sowie auf ein seltsames, gesichtsloses Flügelwesen, einen Serafen, der aus nichts als Federn bestand. Vor diesem Engelsknäuel stand ich lange verwundert.

Noch verwunderter stand ich plötzlich in einer Ausstellung mit übermannshohen Fotografien der Sehenswürdigkeiten des Hagia Sophia-Innern. Also Bilder der Hagia Sophia, ausgestellt in der Hagia Sophia. Gestochen scharfe Bilder, viel klarer und kontrastreicher als die vom Raumlicht verschleierten Originalvorlagen. Und bei diesen Fotografien: Touristen, die sich vor, mit, neben den Fotografien fotografieren ließen. Im Grunde waren damit die Originale überflüssig geworden. War die ganze Hagia Sophia eigentlich überflüssig. Sie ließe sich locker durch eine 3D-Rekonstruktion in jedem beliebigen Planetarium ersetzen.

Und falls ihre Eingangstüren tatsächlich aus den Planken der Arche Noah gezimmert sein sollten, wäre es garnicht verwunderlich, wenn sich die (echte) Hagia Sophia eines Nachts davonmachte. Sie hat ja durchaus was krötiges, amfibisches. Also was lauerndes, das plötzlich einfach weg ist, wenn man zum zweiten Mal hinguckt. Leicht vorstellbar, daß sich die Hagia Sophia in der Nacht ihrer eigentlichen Bestimmung unbemerkt durch den Gülhane-Park wühlt und ins Marmarameer abtaucht, wo sie dann, angetrieben von ihren Kronleuchter-Quallen, via Mittelmeer bis nach Atlantis driftet, um sich dort auf dem Meeresgrund niederzulegen, ihre Geschichte auszuatmen, einzuatmen, auszuatmen – und sich in wellenartigen Traumbewegungen nach und nach in ihr Wesentliches: reine Mystik aufzulösen.

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