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İstiklal Caddesi

Ein im Wortsinn mitreißendes Fänomen Istanbuls stellen die stromernden Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi vor: U-Bahnen, Seitenstraßen, Passagen, Shops, Malls, Konsulate, Schulen, Tourismusratgeber und die Arbeitslosigkeit füttern der Flaniermeile ununterbrochen Frischfleisch zu. Auf dem Pflaster schliddert es in einen Film, organisiert sich zu sardinösem Geschwärme, zuckt, flockt, stockt, zieht, flieht und läßt sich, beim Versuch sich selbst zu imitieren, punktuell zu Euforie verleiten. Tanz, Gesang und Schreie. Malmende Müllpressen und historisches Tramgebimmel. Leben im Permagemenge. Heute ist immer. Heute wird demonstriert, gegendemonstriert, gekauft, geklaut, sich umgeschaut, wird Bein gezeigt und Macht. Arglos zielen die Maschinenpistolenmündungen der strammgebügelten Staatsrepräsentanz auf die Hüften der Bürgerschaft. Die ist nur ein Chamäleon in blütenweiß, ukrainischblond und tschadorschwarz.

Verwunderlich, daß dieser gepflasterte Bosporus nicht irgendwann komplett verstopft, bis die Menschen weder ein noch aus können und hysterisch an sich selbst ersaufen, ob knarretragender Rempelbruder, beliebter Stargast, vergleichende Sprachwissenschaftlerin oder überkommener Flaschengeist. Weil die İstiklal direkt auf meinem Weg nach da und dort liegt, tauche ich alltäglich in diese Flucht mit ihren Seiten-, Unter-, Neben- und Hauptströmungen. Dafür trage ich lediglich eine Schutzbrille mit mir, und Sauerstoff für eine halbe Stunde. Meist gilt: schnell da rein und schnell wieder raus! Erste Bewegungen im All. Dann und wann aber verlangsame ich meinen Gang bei alten stoppelbärtigen Männern, die in Halbtrance meisterhaft magische Weisen fiedeln, dieweil ihnen ein Kind als lebender Mikrofonständer dient. Und mein deutsches Herz verwandelt sich in eine Blutlache.

Das arme Herz wird schnell wieder schockgefroren. Von osmanisierten Speiseeisjongleuren, deren Glockengedengel. Alarm! Überfall! Die Schaufenster haben sich zusammengerottet und greifen an: bis zur völligen Nacktheit enthüllte Pistazien rammen mastixgehärtete Granatapfelpasten, vor Farbenlast quietschende Lokumeinheiten, anrobbende Süßwarenschwadronen, nussige Rekruten im Schlamm des großen Sirupmanövers, in den Seitenstraßen kommandiert General Rakı die berühmten Freischärler des tscherkessischen Huhns, die Seifenblasenpistolenverkäufer mit den Cristiano Ronaldo-Frisuren verteidigen ihre Stellungen, schießen mit extrafrequenten Hirnwäschen, über das Pflaster wehen wie tibetische Gebetsfahnen im Wind die Rauchzeichen der Maronimanen.

Die İstiklal ist mit Sicherheit eine der schlimmstvorstellbaren Martern für Soziofobe der ganzen Welt. Sie bietet aber auch vedutentaugliche Idyllen. Ein junge Frau schläft im Sitzen, gelehnt an den Eingang zur Metrostation Şişhane. In ihrem weit gen Himmel aufgesperrten Mund liegen einige Geldmünzen. Direkt daneben wippen fünf Panflöten-Indios ihren Folkloretakt. Sie haben den obligaten Kondor einst von mächtigen Yatiris in die Tunnel ihrer Instrumente bannsprechen lassen, aus denen sie ihn seit Jahr und Tag auf sämtlichen Einkaufsmeilen der Welt wieder hervorrufen, um die Sehnsüchte der Passanten aufzuscheuchen. Warum sollten sie ausgerechnet die İstiklal verschonen? Apropos Kondor. In Istanbul habe ichs mit den Vögeln. Die Vögel, fiel mir auf, sind auch die eigentlichen Meister meines Wohnviertels. An ihrem Mit- und Gegeneinander pendelt am seidenen Faden in Istanbul mindestens ganz Beyoğlu. Die Häuser, das Meer, sogar viele Menschen in dieser wimmelnden Stadt: nichts als ein Marionettenspiel der Möwen, Schwalben, Reiher, Spatzen.

Wie meisterhaft die Vögel in Istanbul agieren, wurde mir ausgerechnet auf der İstiklal bewußt. Ich ließ mich mit den Massen Richtung Galatasaray-Platz treiben. Da nahm ich auf einmal ganz überkandidelte Vogelstimmen wahr. Aufgeregte Stimmen eines schrillen Gesangs, der knapp über meinem Schädel stattfand. Ich hielt inne und legte meinen Kopf in den Nacken. Dort, wo sie meinem akustischen Empfinden nach hätten sein müssen, waren keine Vögel vorhanden. Verrückt! Der merkwürdig gestörte Gesang drang aus der Leere zwischen den Hausfassaden. Ich erinnerte mich: genau so einen Gesang fabrizierten die elektronischen Vögel, die Guerilla-Stadtverbesserer vor einem Jahr in Köln ausgesetzt hatten. Diese E-Birds bestanden aus umgelöteten Alarmanlagen, die bei Luftzug auf Vogelgezwitscher verfielen. Sie mußten sich inzwischen nach Osten ausgebreitet haben. Nun hielten sie sich als unauffällige Klemmteile an den Oberleitungen versteckt und hatten den Luftraum der İstiklal besetzt. Als sie merkten, daß ich ihrer Tarnung auf die Schliche gekommen war, verstummten sie. Mehr als das, sie webten direkt über mir eine Leere aus purer Stille – einzigartig und wunderschön, deutlich wahrnehmbar und zugleich völlig unerreichbar. Ich blickte mich um und sah, wie einige Leute inzwischen meinen Himmelsblick kopierten. Einem von ihnen prangte eine große Möwe auf dem T-Shirt.

Cyclists

Cyclists

Get on the saddle
Move the pedal
You might taste freedom
Be part of the battle
Trash the newspapers
Spit the flavor of slavery out

Take a lover on the luggage rack
Hunt the wind
Make it blow
With the speed of your bike
As you make it go

Interior Design as a Contemporary Art Medium

What is the connection between art and design and personal set up of the environment.

26.05. – 07/15/2012
Rezan Has Müzesi, Kadir Has Cad., Cibali, Istanbul
Opening times: daily from 09:00-18:00 clock

Organized by the Goethe Institute Istanbul in cooperation with IFA

‘SET’ by Andree Korpys/Markus Löffler. The image shows a part-reconstruction of a conspirative flat of the Rote Armee Fraktion (RAF, Red Army Faction), based on photographs by the Bundeskriminalamt (BKA, Federal Office of Criminal Investigation), it is part of the  exhibition “Come-in. Interior Design as a Contemporary Art Medium in Germany” taking place at Kadir Has University.

The exhibition “Come-in. Interior Design as a Contemporary Art Medium in Germany” investigates the connection between fine art and applied design in twenty-five artistic positions by means of individual objects, sculptures, installations, videos and – in the exhibition catalogue – inserts.
At first glance, the mobilia, objects and interiors appear to possess an “obvious” identity as “furniture”, “luminaries” or “interiors”. At second glance, however, they are too uncomfortable, colourful and eccentric, all too clearly geared to our perception or a situational communicative event. They represent ideas, projects, scenic reinterpretations of situations conditioned by certain furnishing and architectural elements. The interior spaces chosen by many of the contributing artists form links between aspects of contemporary history and their own biography and critical aesthetics.

Every institution that takes part in this touring exhibition is invited to choose and exhibit additional works from its own country for the duration of the show there. These should represent one artistic position dealing with the theme of the exhibition.

The image shows a part-reconstruction of a conspirative flat of the Rote Armee Fraktion (RAF, Red Army Faction), based on photographs by the Bundeskriminalamt (BKA, Federal Office of Criminal Investigation)

Godzilla und das Museum der Unschuld

Der Tag Ende April 2012, an dem Orhan Pamuk sein „Museum der Unschuld“ (Masumiyet Müzesi) der internationalen Presse vorstellte, war wundersamerweise zugleich der Tag, an dem ich plötzlich und völlig unvermittelt Türkisch verstand. Zum ersten Mal bemerkte ich diese neue Errungenschaft auf dem Weg nach Cihangir, als ich aus einem ärmlichen Hauseingang eine schwache Frauenstimme auf die Straße dringen hörte: sie hätte da eine Bitte, sie sei nun 90 Jahre alt und könne sich kaum mehr bücken, rauche aber so gerne, und nun sei ihr das Feuerzeug entglitten, ob ich ihr nicht…? Die Frau hatte nur noch zwei Zähne im Mund und strahlte eine staubflusige Herzenswärme aus. Als sie ihr Feuerzeug wieder in Händen hielt, dimmten Glücksschimmer über ihr gegerbtes Gesicht.

Zur Pressekonferenz war ich nicht geladen, hatte aber einen Tip erhalten. Also verkleidete ich mich als Journalist, schmuggelte mich ein und tat so, als ob ich dazugehörte. Orhan Pamuk saß hinter einem mit Mikrofonen beladenen Holztisch etwa hundert enggedrängten Journalisten (oder als Journalisten Verkleideten) gegenüber. Er trug einen elegant-legeren Anzug, in dem er wie ein Nobelpreisträger steckte, und sprach auf Englisch über die Entstehensgeschichte seines Museums. Meinetwegen hätte er auch auf Türkisch referieren können, da ich die Sprache seit etwa 20 Minuten blendend verstand. Pamuk erzählte, daß das „Museum der Unschuld“, das seinen gleichnamigen Roman nun sozusagen begehbar macht, von Anfang an parallel zum Roman geplant war, aber auch völlig ohne das Buch funktionieren solle, als einziges Museum des Istanbuler Alltags, als Zeit-Raum-Konverter, als Katalysator für Erinnerungen wie sie mit dem Leben in Cihangir in den vergangenen Jahrzehnten verbunden seien oder durch den Museumsbesuch entstehen könnten.

Pamuk sprach klar, in freier Rede, souverän und mit Gewicht. Ähnlich wie in seiner Biografie „Istanbul“ (dem einzigen Buch, das ich bisher von ihm gelesen habe) drückte er sich auch mündlich völlig präzise, vielleicht schon zu präzise, jedenfalls mit dem Hang, sein Sujet einen Tick zu überlängen aus. Nach einer Dreiviertelstunde bemerkte er, daß er nun genug erklärt habe und eröffnete die Fragerunde. Was Journalisten doch bisweilen für Fragen stellen, nachdem sie soeben einer umfassenden Erklärung gelauscht haben!* Pamuk antwortete geduldig, nannte einige nicht sonderlich kluge Fragen „allgemein beliebteste Fragen“, alberte ein wenig herum, indem er seine Stimme comicartig verstellte oder antwortete mit leiser Ironie, als er auf eine „beliebte“ Frage erklärte, im Roman käme ein roter Apfel vor, der im Museum zu sehende Apfel sei jedoch, obgleich ebenfalls rot, nicht derselbe Apfel aus dem Roman. Der Schriftsteller äußerte ein paar gescheite Gemeinplätze, die auf keinerlei Widerstand stießen, hatte die Journalisten rhetorisch völlig in der Tasche und bestimmte den Zeitplan. Ein Nobelpreisträgerauftritt wie aus dem Bilderbuch.

Weiter gings in die Museumsräume. So neu im „Museum der Unschuld“ einen Tag vor der Publikumseröffnung alles war, wirkten doch die meisten Exponate und ihre Präsentation ausgesprochen nostalgisch. Pamuk hatte erwähnt, daß er insbesondere die kleinen Museen liebe. Mir geht es ähnlich. An solchen kleinen Museen hat er sich orientiert und ein liebenswertes, schlau konzipiertes Gerümpelkammer-Schmuckstückchen von edel gearbeiteter Schlichtheit auf den Weg gebracht, über dessen Wert ich mir jedoch unschlüssig bin. Letztlich läßt sich das Geschaute der Romanlektüre doch nicht recht entkoppeln, denn der Roman schwingt bei der Betrachtung immer mit – gerade auch für denjenigen, der ihn nicht gelesen hat. Vielleicht ist ein gutes Buch bereits Museum genug. Wie weit trägt die einer bestimmten Zeitspanne zugehörige Nostalgie? Wohl exakt so weit, als diese Zeit etwas wirklich Besonderes vorstellt, das sich gegen bereits vorhandene oder neue, nachwachsende Nostalgieschichten zu behaupten vermag. Eine solche Besonderheit konnte ich, so anrührend ich den vorgefundenen vitrinierten Alltag teilweise fand, zwischen all dem Pressevertretergehüpfe des Präsentationstages im Zusammenspiel der Exponate nicht ausmachen.

Nach dem Besuch von Pamuks weinrotem Museum in der hübschen Çukurcuma Cd. traf ich auf Godzilla. Er grüßte freundlich und erzählte mir lausbübisch lachend, wie er in der Gasse als Monster die kleinen Kinder erschrecke, die dann schreiend vor ihm davonliefen. Dazu stampfte er vor dem “Museum der Unschuld” herum und ruderte wild mit den Armen. Godzilla war eines dieser Freundchen, welche gerne mit Ausländern reden, ein sympathischer Rentner in diesem Fall, mit einer Godzilla-Schirmkappe. Ein paar Grundschüler kamen die Straße runter und frotzelten den Mann. Die Straße, meinte Godzilla, sei wegen des Museums komplett neu gemacht worden. Nun wurde sie von einem schweren schwarzen Mercedes mit wichtigem Kennzeichen blockiert. Ich schaute mir die Straße genauer an. Einiges an idyllischem Verfall, Pamuks Museum war so weinrot gestrichen in der hellen, grauen Umgebung ein sehr auffälliger Farbfleck. Wie wäre es, ging mir durch den Kopf, um die Gegend noch weiter aufzupeppen, direkt gegenüber das „Museum der Schuld“ einzurichten? Giftgrün müßte es angemalt, besser: angesprayt werden; das Buch dazu ließe sich später schreiben – und als Eingangsexponat stünde schon mal fest: ein nuklear leuchtender Granny Smith.

* Und was sie alles filmen! Ein zwei Tage später war ich in der „Kulturzeit“ auf 3sat als Medienvertreter zu bestaunen.

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