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Galatabrücke

Ich hasse Leute, die immer so schlendern“, monierte eine leichtbekleidete schwäbische Touristin auf der Galatabrücke (Galata Köprüsü). „Ich hasse nebst deinem gehörtötenden Akzent erstmal das chinesische Schriftzeichen-Tattoo, das auf deiner Schulter unter dem einseitigen Trägerchen hervorlugt, obwohl es „Waschmaschine“ bedeutet… – und weiter will ich sicherheitshalber in dieser grundentspannten Brückensituation garnicht denken“, dachte ich da. Und dann: „Wir Menschen! Zur Liebe geboren genau wie zum Haß, wobei uns im Fadenkreuz der Bedeutungsverschiebungen der Postmoderne das eine schon mal ganz wie das andere dünkt.“

Solch inspirierten Gedanken hing ich nach, als die Brücke eklatant zu schwingen begann. Unter mir riß ein Abgrund auf, ich kippte in die Knie, um im nächsten Moment höchst angenehm eine Spur himmelwärts gefedert zu werden. Dasselbe Gefühl, wie wenn ich als Kind über ein Trampolin lief. Schön und gut, doch durfte eine Brücke dermaßen schwingen? Sogleich fiel mir das imposante Foto der erdbebenverdrehten Stelzen-Autobahn von Kōbe ein. Ich schaute mich um. Was taten die Brückenangler? Alle siebenhundertdreißig angelten unbesorgt vor sich hin. Womöglich nutzten sie die Schwingungen sogar, um sie auf ihre Köder zu übertragen. Mein Schreck entglitt als Möwe mit gespreizten Flügeln und einem scharfen Blick in die Ferne. Der Tod, dessen klopfende Knöchel ich soeben vernommen zu haben meinte, würde vor mir noch zahllose Sardellen und Blaubarsche einbestellen. Schnell justierten sich meine Gedanken um.

Zum Beispiel auf die Brückenverrückte, die geifernd und keifend durch die Menge wuschte, als ich zum ersten Mal das Goldene Horn zu Fuß querte und wie sie sich in eine historische Linie von Brückenverrückten einordnen ließe, bzw von Verrückten, die irgendwann nicht mehr auf die Galatabrücke durften, weil ihr Auftreten, oder noch schlimmer: ihr Zusammenprall hoch überm Wasser zu viele Gefahren beschworen hätte. Heute war in dieser Hinsicht nicht viel los. Doch erinnerte ich mich an Orhan Pamuks Kindheitslektüre einer „Kurioses in Istanbul“-Geschichte mit Auftritt zweier natürlicher Antipoden: einer Frau, die zu jeder Jahreszeit soviel Kleidung übereinander trug, wie nur auf ihren Körper paßte und eines Mannes, der immer splitternackt einherlief. Beide bevorzugten für ihre Spaziergänge die Galatabrücke, waren sich spinnefeind und gingen, wenn sie sich erblickten, sofort aufeinander los. Pamuk nennt desweiteren den Langen Ömer, einen Riesen, der als Losverkäufer zum Brückenoriginal wuchs und Yaşar, einen gefangenen Seehund, der es mit seinen Kunststückchen auf der Seite von Eminönü zu Ruhm brachte. Ich dachte dabei an Willy, den friesisch freien Seehund im Hörnumer Hafenbecken und daß ich keinen einzigen Riesen, aber viele Zwerge die Galatabrücke passieren sah.

Wer in einem der zahlreichen Fischrestaurants in der Halbetage der Galatabrücke mit Blick aufs Goldene Horn bzw dessen Mündung in den Bosporus sitzt, blickt gleichzeitig auf und durch einhundertsieben der tausendzweiundzwanzig Angelschnüre, welche von beiden Brückenseiten herabgeworfen schillernde Vorhänge durchsichtigen Kunstgewebes spinnen, an denen von Zeit zu Zeit, in schönen Abständen gereiht, bis zu acht Sardellen pro Schnur emporklettern, ein lebender Wandteppich filigranster Art. Die Winkel Galatas zentrieren und öffnen sich in Sonnenwellen, die Architektur funktioniert wie das Entgräten einer Goldbrasse. Ich gehe an den Restaurant-Einwinkern vorüber und denke an Orhan Velis Gedicht „Galata Köprüsü“, in dem die Passanten als Ruderer, Muschelsammler, Wolken, Vögel, Fische, Bojen und Dampfboote mit eingeknickten Schornsteinen, als deren Hupen und Qualm beschrieben sind, ein wunderbar leichtfüßiges Gedicht, obschon es von den Sorgen des Alltags handelt.

Am Fähranleger von Karaköy befindet sich ein Fischmarkt. Wer den Fisch nicht selber zubereiten will, kann ihn direkt an den Marktständen grillen lassen und verspeisen. In den Auslagen stapeln sich verstummte Seezungen, glänzend glatte Bonitos und der schmackhafte Wolfsbarsch. Der Steinbutt sieht aus, als sei es ihm zeitlebens mißlungen, alle Sprechblasen loszuwerden, die ihm wirklich am Herzen lagen. Manchmal röchelt er noch platzende Frasen in großen Plastikeimern vor sich hin. Ich habe oft die letzten Worte der Fische notiert und gerne dort eingekauft und die Händler begannen bald, mich per Handschlag zu begrüßen. Auf dem sonnenerhitzten Trottoir trocknen sich Jungen in Badehosen nach ihren Sprüngen ins quallige Schmutzwasser des Anlegerbeckens. Dort wo sie eben noch schwammen, linst jetzt ein Kormoran den Galatahügel hinauf. Was denkt er von all den verfallenen Gebäuden dort, welche aus dieser Perspektive die Neubauten zu stützen scheinen? Oder hat er nur Fisch im Sinn? Anstatt genaueres über den Grad seiner Kultiviertheit zu verraten, taucht der Kormoran einfach ab.

Mimikry

In meinen Istanbuler Anfangstagen mußte ich mich daran gewöhnen, nicht ständig den Bosporus mit dem Rhein zu verwechseln. Insbesondere mit Kölner Bekanntschaften war schnell „von der anderen Rheinseite“, bzw der „Schääl Sick“ die Rede, wenn wir vom asiatischen Teil der Stadt sprachen und gleich bei meiner ersten Istanbullektüre fand ich heraus, daß solche Redensarten nicht erst seit gestern kursieren. Der französische Reiseschriftsteller Théophile Gautier hat in seinem Buch „Constantinople“ den Istanbuler Stadtteil Kadiköy bereits vor 200 Jahren mit Köln-Deutz verglichen, weil beide zwar „auf der falschen Seite“ lägen, dafür jedoch den beachtlichen Vorteil böten, das jeweilige Stadtpanorama zu überschauen.

Vergleiche und Verwechslungen drängten sich in Istanbul zahlreich auf. Vor allem, als die Eigenarten der Stadt für mich zwar spürbar, aber noch nicht faßbar waren. So querte ich in der Nacht meiner Ankunft ein Aquädukt, das mir wie eine optische Täuschung vorkam, weil ich es aus purer Fahrlässigkeit sonstwo, nur nicht in Istanbul erwartet hätte, dieweil der blaue Leuchtflitter am Straßenrand mich in westafrikanische Tropennächte versetzte. Wo genau war ich soeben gelandet? Als der Flughafenbus die beleuchteten Moscheen der Altstadt passierte, schoß mir durch den Sinn, welch ein Aufhebens die Kölner um ihre einzige Kathedrale machen. Als es auf den Taksim zuging sah ich mich plötzlich am Nguyễn Huệ-Kreisverkehr in Saigon, nur daß statt der dortigen Mopeds hier keuchende Yellow Cabs die Straßen bis knapp vor Stillstand bekrochen. Da war rasanter Weltstadtmix, Orient und Dunkelheit, aus der, all meinen Tropengefühlen zum Trotz, noch in derselben Nacht Frau Holles beste Schneeflocken herabsinken sollten.

Auf Weltstadt folgte Provinz. Am nächsten Morgen, als ich zu Fuß an den dicht bei dicht stehenden Sardellen-Anglern auf der Galatabrücke vorüberschlenderte, fielen mir sofort ihre Kollegen am Kieler Hafenbecken ein, samt ihren Klagen wie selten die Ostsee-Sprotte geworden sei. Die Makrelen für die Fischbrötchen, die mit zünftig-oktoberfestigem Osmanen-Bowhow am Anleger von Eminönü verkauft werden, stammen zum Großteil frisch aus Norwegens Fjorden. Daß Oceanliner mitten durchs Stadtzentrum fahren, hatte ich das erste Mal im südfranzösischen Städtchen Sète erlebt und erinnerte mich in einem maritimen Sprung an den Gondoliere auf der Brüsseler Straße in Köln, der in Ermangelung touristisch besuchter Kanäle seine Gondel kurzerhand auf Rädern durch das Belgische Viertel schob und dazu einen der grausigsten Gesänge anstimmte, der je auf Venezianisch versucht worden sein dürfte. Obgleich ich in den Straßen häufig brüllende Händler oder auf ihren Sohlen die Hänge hinabschliddernde Müllsammler entdeckte, scheinen mir die Istanbuler im Kern, das sage ich als Wahlkölner, zurückhaltende Menschen. Selbst nach großen Fußballsiegen feiern sie eher mechanisch, aber laut und ihre Freudenschüsse sollen jede Saison einige unvorsichtige Balkonnutzer töten.

Der Ruhrpot(t) hat sich gleich selbst als Sprayschablone importiert, Kiefern bleibt!-Spuckis vermitteln Düsseldorfer Heimatgefühle. Das von meiner Dachterrasse jeden Abend zu beobachtende Feuerwerk erinnert an Las Vegas, die Bosporusöffnung zum Marmarameer an Konstanz und den Bodensee – letzteres behauptete zumindest eine Begleitung, die sich nur wenige Minuten später auf einer der Prinzeninseln ob der Pinienwäldchen auf Mallorca wähnte. Auf der Istiklal Caddesi wird ebensoviel Deutsch gesprochen wie auf der Schildergasse. Welche der beiden Flaniermeilen welcher nachempfunden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Aber nein, das Vorbild beider ist ja Paris. Die Abflußrinnen am Fischmarkt von Karaköy ermunterten einen Besuch, von den Freiburger Bächle zu erzählen. Derjenige, der in diese Bächle hineintappt, heißt es, müsse in Freiburg heiraten. Ob das in Istanbul auch so sei? „Probieren Sie`s aus“, fiel mir nur ein, „wahrscheinlich verkaufen morgen dann Sie mir hier den Fisch.“

Die Außenbezirke, die ich nicht für mich erschloß, gemahnten auf dem Screen des Busfensters an extensive Vervielfältigungen von Halle-Neustadt. Das Burj al Arab habe ich gesehen, aber seinen Standort vergessen. Vielleicht ist es auch schon wieder abgerissen, das wäre nicht ungewöhnlich. Ganze Viertel verschwinden in Istanbul über Nacht, wie das legendäre Roma-Viertel Sulukule, wir kennen das von Rungholt und Vineta. Zwar ließe sich sagen, erstere Zerstörung sei Menschenwerk und zweitere Sache der Natur. Doch inwieweit lassen sich Mensch und Natur trennen? (Und falls es einen steuernden Gott gibt, dann steuert er vermutlich auch die Politiker.) Der Galataturm, hörte ich von einer Kunststudentin, sei „so ähnlich wie der schiefe Turm von Pisa, nur nicht schief“. Die ersten Wochen fühlte ich mich meist sowieso in Lissabon, Porto oder Coimbra: die Hügel, die Gassen, die Fischgerichte. Von Zigaretten ausgemergelte Männer und fantastische Süßspeisen. Nur daß die Saudade in Istanbul Hüzün heißt. Im Winter lag eine depressiv-halbstolze Stimmung über der Stadt, genau wie ich sie aus Portugal kannte. Ob sie nun im Juni immer noch vorhanden ist, kann ich aus lauter Gewöhnung gar nicht mehr beurteilen. Wahrscheinlich schon. Am Ende habe ich sie sogar verinnerlicht. Das Gewitter gestern erschien mir jedenfalls verdächtig melancholisch. Was ist überhaupt anders, wenn ich sowieso ein Anderer ist? Nach einer Weile habe ich einfach aufgehört, Vergleiche anzustellen, um das weite Feld des interkulturellen Humbugs denjenigen zu überlassen, die neu in die Stadt kommen. Ohnehin bin ich bald wieder fort. Und ein Stückchen Istanbul (als Istanbul) nehme ich dann, für keinen Zollbeamten der Welt aufspürbar, einfach mit mir mit.

Schlendern durch Istanbul

Nach „speziellen“ Istanbulmomenten gefragt, kann ich nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, ob es solche überhaupt gibt, doch bin ich bei meinen Spaziergängen und Fährfahrten durch das weitläufige Zentrum der Stadt einigen Fänomenen begegnet, die mir „besonders“ und womöglich „istanbulspezifisch“ vorkamen. In dieser Doppelhinsicht am stärksten beeindruckt hat mich ein mehrfach täglich wiederholter poetischer Moment: die sich überlagernden, wellengeschaukelten Stadtviertel Cihangir und Üsküdar auf der halbverspiegelten Scheibe einer Bosporusfähre, Sinnbild u.a. für den Tanz auf dem Vulkan einer erdbebengefährdeten Stadt. Ebenfalls auf den Fährschiffen, aber häufiger noch in den Straßen sah ich junge Frauen in grenzwertigen Verrenkungen posieren. Als ad hoc-Kulissen dienten ihnen parkende Motorräder, gußeiserne Fenstergitter oder einfach nur der von ihnen zu füllende/zu überstrahlende, im Grunde bedeutungslose Ort. Absurd wirkten die Posen vor allem, wenn ihr Fotograf, was nicht selten vorkam, zunächst außerhalb meines Blickfeldes agierte.

Als ich einmal gedankenversunken die Fahrbahn der Yeni Çarşı Caddesi hügelan trottete, kam mir mit einigem Tempo ein Mann entgegen. Er rief mir zu, ich solle ihm ausweichen. Unter seinen Ellbogen klemmten die Griffe eines schweren Müllkarrens. Dieses Geschoß in seinem Rücken verhalf ihm anscheinend zu einem gerüttelt Maß Extraspeed. Ich schätzte sein Tempo auf gut 30 km/h. Der Mann schlidderte auf seinen Schuhsohlen den Abhang hinab. Er wirkte nicht, als wäre er fähig, den gewonnenen Schwung aus eigener Kraft zu bremsen. Die Müllsammler Istanbuls sind gleichzeitig Mülltrenner: sie durchsuchen den Hausmüll nach recyclebaren Inhalten. Ihre Zunft ist zumeist ärmlich gekleidet, ich habe aber auch Müllsammler im Anzug arbeiten sehen. Ihre spezielle Fortbewegungsart hangab verdiente eine eigene Nomenklatur. Gewiß wird noch ein findiger Kopf eine Funsportart aus dem Müllmänner-Hangschliddern entwickeln, um sich am Zubehörvertrieb eine goldene Nase zu verdienen.

Die Theodosianische Mauer steht seit 1500 Jahren und gilt als Meisterwerk der Stadtbefestigung. Daß sie auch bewohnt ist, hat mich irritiert. Als ich das von Kanonenkugeln und Verwitterung angegriffene, teils restaurierte Bollwerk entlangschritt, sah ich wie aus einem Mauerloch in Überkopfhöhe diverse Gebrauchsgegenstände ins Freie gehievt wurden. Die Bewohner des Mauerlochs, eine ganze Familie, nutzten eine mobile Leiter zum Ein- und Ausstieg: im absoluten Zentrum Istanbuls findet sich tatsächlich noch vorantikes Troglodytentum. Die mehrspurige, stark befahrene Kennedy Caddesi direkt unterhalb der Mauer trennt die Troglodyten vom Marmarameer. Das etwas unmotiviert hinter der Fahrbahn herumliegt und mit Modernoten gegen die massiven Steinblöcke seiner Befestigung schwappt.

Gerne spaziere ich über die Promenade von Kadiköy. Dort gibt sich die Mittelschicht von der Sonne beleidigt. Gruppale Infekte flottieren gleich schadhaften Metafern. Im Mai explodiert mit ultrafrequentem Violettknall die Sukkulentenblüte von Moda. Strohige Blüten am Rande meiner farblichen Vorstellungskraft hängen in Leuchtbalken-Verbünden über die Vorgartenmauern. Städtische Großvertikutierer trimmen lärmend den ausgetrockneten Restrasen. Ich hüpfe nach einem Ast weißer Maulbeeren. Das System der Stare umwebt mich mit seinem Gefiepe. Das Glück von Kadiköy: ein baumschattiger Kaffee mit Delfinblick. Die Sonne entrollt übers Wasser einen Teppich genau auf mich zu. Er besteht aus weißgolden glänzenden Kugelblitzen und gleißenden Gaslichtern, blitzenden, blinkenden, auf den sachten Bewegungen der Wasserhaut irrlichternden Elektroklunkern, aufs Wasser gestreuten Sternen, die mir bedeuten, ich solle ihrem Geleit folgen, in die Weite des Meers hinaus schreiten, um mich endlich ganz in Blau aufzulösen.

Am Galatahügel fiel mir ein asiatischer Fotograf auf. Er trug einiges an professioneller Ausrüstung bei sich und war gerade dabei, die mit Aufklebern übersäte Verkleidung eines Kiosks zu fotografieren. Ich wunderte mich über sein Motiv. Da erschien ein Auto, mit der Absicht, genau dort zu parken, wo der Fotograf arbeitete. Als der sich weigerte, dem Fahrer Platz zu machen, tauchte ein Dutzend Heranwachsender aus dem Niemandsland der Nachbarschaft auf und trug den Asiaten samt seiner Ausrüstung beiseite, sodaß der Wagen einparken konnte. Der machtlose Asiate stampfte wütend unter lauthals ausgestoßenen Flüchen in astreinem Deutsch, wie unsensibel und kulturlos diese Nazitürken doch wären, davon.

Ich mußte mir ein wenig entrückt sein, denn von der Caféterrasse oberhalb der Nusretiye Moschee sah ich mich auf dem Oberdeck einer vorüberziehenden Fähre stehen, von wo mein Blick über ebendiese Caféterrasse schweifte, auf der an meiner statt jedoch ein ganz Anderer saß. Vom Vapur betrachtet schimmerte Tophane auf nie zuvor erblickte Art im neuralgischen Dunst gelben Abendlichts. Höchstwahrscheinlich hatte Gott persönlich dieses Licht mit großer Sorgfalt angemischt, solide aufgetragen und anschließend durscheinend gewischt. Und wo ich schon auf Gott verfiel, wurde mir schlagartig angst und bange, denn: nur zwei oder drei weitere solcher Wischgänge – und es würde von all dieser Schönheit und denen, die von ihr eingetüncht waren, nichts als eine komplett durchsichtige Leerstelle übrigbleiben.

Botox in Tarlabaşı

Zafer Şenocak schreibt in „Der Mann im Unterhemd“ sinngemäß, daß der Istanbuler Obst- und Gemüsehändler sich für seine verkorkste Sexualität an der Gesellschaft räche, indem er lauter vergammelte Ware anbiete. Wie immer Şenocak zu dieser Aussage fand: ich kann sie weder untermauern, noch dementieren. Tatsächlich findet sich auf Istanbuls Straßen minderwertige und verdorbene Ware alles andere als selten.

Auf dem Sonntagsmarkt von Tarlabaşı wirkt der weit überwiegende Teil des Angebots eher anständig und frisch. Der Markt kommt langsam in die Gänge, um 11 Uhr morgens sind noch längst nicht alle Stände aufgebaut, geschweige denn bepreist. Vor Sonne, Regen und Schnee schützt eine abenteuerliche Zeltdachkonstruktion. Heute prallte ich beinahe gegen eine ihrer improvisierten Stützstangen, worauf mir ein Händler lachend zu verstehen gab, daß ich im Erfolgsfall seinen Stand abgeräumt hätte.

Das Marktangebot ist knallbunt und preisgünstig. Zitrusfrüchte, Auberginen, Zucchini, Tomaten, Garnelen, Blaubarsche, Thunfischscheiben, rosige Rochenflügel, Curries, Knoblauch, Sumach und Lokum, sauer Eingelegtes, Fleisch, Nüsse, Ölweidenfrüchte, Maulbeeren, grüne Frühjahrspflaumen, just gefalteter Yufkateig, in Plastikeimern dümpeln frisch geschlachtete Artischockenherzen in Lake, die Männer hinter den Käse- und Olivenständen füttern blonde Europäerinnen mit Probierhäppchen satt, nebendran besabbert ein leicht idiotischer Händler seine Erdbeeren, daneben wieder ein freundlicher Alter, der außer seinem Lächeln kaum etwas anzubieten hat und von diesem Wenigen auch noch freimütig verschenkt.

Die Händler sind allesamt Männer, darunter einige Sänger und Glossolalisten und der ganzen Szenerie fehlt nur der bürgerliche Autor, der all das auf die Romantische beschreibt: vor Taschendiebstahl wird gewarnt! Bettler exponieren ihre eklatanten Körperschäden und nicht wenige der Händler sehen dreckig, krank und gebeutelt aus. Als Angehöriger des lyrischen Prekariats fühle ich mich auf diesem Markt wohler als auf der geleckten İstiklal.

Tarlabaşı gilt als Armenviertel, ehemals (bis zu den Vertreibungen) von Griechen bewohnt, dann von Roma und Kurden, heute Magnet für afrikanische Zuwanderer. Abseits des Markts dünsten Tarlabaşıs Sokaks und Schluchten nebst Ärmlichkeit auch uralte Hohlweggefahren aus. An Wohnungen, Läden und Gestalten finden sich mannigfache Wracks. Die Straßenhunde gucken linkisch aus der Wäsche. Kaum bin ich zehn Meter auf dieses Gelände vorgedrungen, komme ich mir vor, als würde ich gescannt: das Viertel registriert, daß ich da bin. Niemanden kümmerts, doch jeder weiß bescheid. Ein Friseurlädchen, das eher einer öffentlichen Verhörzelle ähnelt, bietet Botox an, dieses Wurstgift für wohlhabende Avantgarde-Ästheten, mit dem sich Gesichter mimikfrei spritzen lassen. Ob Botox in Tarlabaşı stark nachgefragt ist?

Ich schlendre über die Tarlabaşı Caddesi, jene wuchtige Autotrasse, welche das Viertel im Osten begrenzt, eine Schneise, die aussieht, als wäre sie mit Mittelstreckenraketen aus dem verklumpten Stadtgefüge freigeschossen worden. Ich blicke auf den Straßenverkehr, zugleich auf den löchrigen Fußweg und bröckelnde Hausfassaden. Ein Auge klebt immer am Himmel, aus dem so einiges herunterfallen kann. Plötzlich signalisiert mir eine Dame ihr Einverständnis – dabei habe ich sie garnichts gefragt. Sie ist einfach im Blickfeld zu meiner Rechten aufgetaucht, weil die Häuser dort von jetzt auf sofort nur noch aus Löchern bestanden. Verdutzt schaue ich in ihre Richtung, sie nickt erneut. Bewegt sich in einiger Entfernung parallel zu mir durch Ruinen und Schutt, trägt Sonnenbrille über straffer Bronzehaut. Botox! schießts mir durch den Sinn. Ihr Körper wirkt weiblich, aber nicht ganz. Wenn es sich um drei Uhr nachmittags für eine schnelle Nummer in dieses mitten in der Stadt gelegene Ruinenfeld verziehen läßt, dürfte die Hochrechnung für die Nacht die vollkommene Planierung des Geländes beinhalten.

Alte, moslemisch gekleidete, bärtige Männer sitzen am Straßenrand und atmen Bleidämpfe zu ihren Zigaretten. Schuhputzer mit blitzblanken, aber löchrigen Tretern. Teeistische Tagediebe und zänkische Vetteln. Längst schien mir, hätte die Vokabel „Vettel“ ausgedient, doch Istanbul hat noch massig solcher Gestalten auf Vorrat, speziell in Tarlabaşı, nebst Zwergen, Bohnengerichten und Transen. Ich gehe dort hindurch. Die Leute bleiben. Um sich selbst kreiselnde Schluchtenhocker. Es geht ihnen sichtbar nicht gut. Und genau dieser Umstand, stelle ich mit Erschrecken fest, wertet unter der Hand mein eigenes Befinden auf.

İstiklal Caddesi

Ein im Wortsinn mitreißendes Fänomen Istanbuls stellen die stromernden Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi vor: U-Bahnen, Seitenstraßen, Passagen, Shops, Malls, Konsulate, Schulen, Tourismusratgeber und die Arbeitslosigkeit füttern der Flaniermeile ununterbrochen Frischfleisch zu. Auf dem Pflaster schliddert es in einen Film, organisiert sich zu sardinösem Geschwärme, zuckt, flockt, stockt, zieht, flieht und läßt sich, beim Versuch sich selbst zu imitieren, punktuell zu Euforie verleiten. Tanz, Gesang und Schreie. Malmende Müllpressen und historisches Tramgebimmel. Leben im Permagemenge. Heute ist immer. Heute wird demonstriert, gegendemonstriert, gekauft, geklaut, sich umgeschaut, wird Bein gezeigt und Macht. Arglos zielen die Maschinenpistolenmündungen der strammgebügelten Staatsrepräsentanz auf die Hüften der Bürgerschaft. Die ist nur ein Chamäleon in blütenweiß, ukrainischblond und tschadorschwarz.

Verwunderlich, daß dieser gepflasterte Bosporus nicht irgendwann komplett verstopft, bis die Menschen weder ein noch aus können und hysterisch an sich selbst ersaufen, ob knarretragender Rempelbruder, beliebter Stargast, vergleichende Sprachwissenschaftlerin oder überkommener Flaschengeist. Weil die İstiklal direkt auf meinem Weg nach da und dort liegt, tauche ich alltäglich in diese Flucht mit ihren Seiten-, Unter-, Neben- und Hauptströmungen. Dafür trage ich lediglich eine Schutzbrille mit mir, und Sauerstoff für eine halbe Stunde. Meist gilt: schnell da rein und schnell wieder raus! Erste Bewegungen im All. Dann und wann aber verlangsame ich meinen Gang bei alten stoppelbärtigen Männern, die in Halbtrance meisterhaft magische Weisen fiedeln, dieweil ihnen ein Kind als lebender Mikrofonständer dient. Und mein deutsches Herz verwandelt sich in eine Blutlache.

Das arme Herz wird schnell wieder schockgefroren. Von osmanisierten Speiseeisjongleuren, deren Glockengedengel. Alarm! Überfall! Die Schaufenster haben sich zusammengerottet und greifen an: bis zur völligen Nacktheit enthüllte Pistazien rammen mastixgehärtete Granatapfelpasten, vor Farbenlast quietschende Lokumeinheiten, anrobbende Süßwarenschwadronen, nussige Rekruten im Schlamm des großen Sirupmanövers, in den Seitenstraßen kommandiert General Rakı die berühmten Freischärler des tscherkessischen Huhns, die Seifenblasenpistolenverkäufer mit den Cristiano Ronaldo-Frisuren verteidigen ihre Stellungen, schießen mit extrafrequenten Hirnwäschen, über das Pflaster wehen wie tibetische Gebetsfahnen im Wind die Rauchzeichen der Maronimanen.

Die İstiklal ist mit Sicherheit eine der schlimmstvorstellbaren Martern für Soziofobe der ganzen Welt. Sie bietet aber auch vedutentaugliche Idyllen. Ein junge Frau schläft im Sitzen, gelehnt an den Eingang zur Metrostation Şişhane. In ihrem weit gen Himmel aufgesperrten Mund liegen einige Geldmünzen. Direkt daneben wippen fünf Panflöten-Indios ihren Folkloretakt. Sie haben den obligaten Kondor einst von mächtigen Yatiris in die Tunnel ihrer Instrumente bannsprechen lassen, aus denen sie ihn seit Jahr und Tag auf sämtlichen Einkaufsmeilen der Welt wieder hervorrufen, um die Sehnsüchte der Passanten aufzuscheuchen. Warum sollten sie ausgerechnet die İstiklal verschonen? Apropos Kondor. In Istanbul habe ichs mit den Vögeln. Die Vögel, fiel mir auf, sind auch die eigentlichen Meister meines Wohnviertels. An ihrem Mit- und Gegeneinander pendelt am seidenen Faden in Istanbul mindestens ganz Beyoğlu. Die Häuser, das Meer, sogar viele Menschen in dieser wimmelnden Stadt: nichts als ein Marionettenspiel der Möwen, Schwalben, Reiher, Spatzen.

Wie meisterhaft die Vögel in Istanbul agieren, wurde mir ausgerechnet auf der İstiklal bewußt. Ich ließ mich mit den Massen Richtung Galatasaray-Platz treiben. Da nahm ich auf einmal ganz überkandidelte Vogelstimmen wahr. Aufgeregte Stimmen eines schrillen Gesangs, der knapp über meinem Schädel stattfand. Ich hielt inne und legte meinen Kopf in den Nacken. Dort, wo sie meinem akustischen Empfinden nach hätten sein müssen, waren keine Vögel vorhanden. Verrückt! Der merkwürdig gestörte Gesang drang aus der Leere zwischen den Hausfassaden. Ich erinnerte mich: genau so einen Gesang fabrizierten die elektronischen Vögel, die Guerilla-Stadtverbesserer vor einem Jahr in Köln ausgesetzt hatten. Diese E-Birds bestanden aus umgelöteten Alarmanlagen, die bei Luftzug auf Vogelgezwitscher verfielen. Sie mußten sich inzwischen nach Osten ausgebreitet haben. Nun hielten sie sich als unauffällige Klemmteile an den Oberleitungen versteckt und hatten den Luftraum der İstiklal besetzt. Als sie merkten, daß ich ihrer Tarnung auf die Schliche gekommen war, verstummten sie. Mehr als das, sie webten direkt über mir eine Leere aus purer Stille – einzigartig und wunderschön, deutlich wahrnehmbar und zugleich völlig unerreichbar. Ich blickte mich um und sah, wie einige Leute inzwischen meinen Himmelsblick kopierten. Einem von ihnen prangte eine große Möwe auf dem T-Shirt.

Godzilla und das Museum der Unschuld

Der Tag Ende April 2012, an dem Orhan Pamuk sein „Museum der Unschuld“ (Masumiyet Müzesi) der internationalen Presse vorstellte, war wundersamerweise zugleich der Tag, an dem ich plötzlich und völlig unvermittelt Türkisch verstand. Zum ersten Mal bemerkte ich diese neue Errungenschaft auf dem Weg nach Cihangir, als ich aus einem ärmlichen Hauseingang eine schwache Frauenstimme auf die Straße dringen hörte: sie hätte da eine Bitte, sie sei nun 90 Jahre alt und könne sich kaum mehr bücken, rauche aber so gerne, und nun sei ihr das Feuerzeug entglitten, ob ich ihr nicht…? Die Frau hatte nur noch zwei Zähne im Mund und strahlte eine staubflusige Herzenswärme aus. Als sie ihr Feuerzeug wieder in Händen hielt, dimmten Glücksschimmer über ihr gegerbtes Gesicht.

Zur Pressekonferenz war ich nicht geladen, hatte aber einen Tip erhalten. Also verkleidete ich mich als Journalist, schmuggelte mich ein und tat so, als ob ich dazugehörte. Orhan Pamuk saß hinter einem mit Mikrofonen beladenen Holztisch etwa hundert enggedrängten Journalisten (oder als Journalisten Verkleideten) gegenüber. Er trug einen elegant-legeren Anzug, in dem er wie ein Nobelpreisträger steckte, und sprach auf Englisch über die Entstehensgeschichte seines Museums. Meinetwegen hätte er auch auf Türkisch referieren können, da ich die Sprache seit etwa 20 Minuten blendend verstand. Pamuk erzählte, daß das „Museum der Unschuld“, das seinen gleichnamigen Roman nun sozusagen begehbar macht, von Anfang an parallel zum Roman geplant war, aber auch völlig ohne das Buch funktionieren solle, als einziges Museum des Istanbuler Alltags, als Zeit-Raum-Konverter, als Katalysator für Erinnerungen wie sie mit dem Leben in Cihangir in den vergangenen Jahrzehnten verbunden seien oder durch den Museumsbesuch entstehen könnten.

Pamuk sprach klar, in freier Rede, souverän und mit Gewicht. Ähnlich wie in seiner Biografie „Istanbul“ (dem einzigen Buch, das ich bisher von ihm gelesen habe) drückte er sich auch mündlich völlig präzise, vielleicht schon zu präzise, jedenfalls mit dem Hang, sein Sujet einen Tick zu überlängen aus. Nach einer Dreiviertelstunde bemerkte er, daß er nun genug erklärt habe und eröffnete die Fragerunde. Was Journalisten doch bisweilen für Fragen stellen, nachdem sie soeben einer umfassenden Erklärung gelauscht haben!* Pamuk antwortete geduldig, nannte einige nicht sonderlich kluge Fragen „allgemein beliebteste Fragen“, alberte ein wenig herum, indem er seine Stimme comicartig verstellte oder antwortete mit leiser Ironie, als er auf eine „beliebte“ Frage erklärte, im Roman käme ein roter Apfel vor, der im Museum zu sehende Apfel sei jedoch, obgleich ebenfalls rot, nicht derselbe Apfel aus dem Roman. Der Schriftsteller äußerte ein paar gescheite Gemeinplätze, die auf keinerlei Widerstand stießen, hatte die Journalisten rhetorisch völlig in der Tasche und bestimmte den Zeitplan. Ein Nobelpreisträgerauftritt wie aus dem Bilderbuch.

Weiter gings in die Museumsräume. So neu im „Museum der Unschuld“ einen Tag vor der Publikumseröffnung alles war, wirkten doch die meisten Exponate und ihre Präsentation ausgesprochen nostalgisch. Pamuk hatte erwähnt, daß er insbesondere die kleinen Museen liebe. Mir geht es ähnlich. An solchen kleinen Museen hat er sich orientiert und ein liebenswertes, schlau konzipiertes Gerümpelkammer-Schmuckstückchen von edel gearbeiteter Schlichtheit auf den Weg gebracht, über dessen Wert ich mir jedoch unschlüssig bin. Letztlich läßt sich das Geschaute der Romanlektüre doch nicht recht entkoppeln, denn der Roman schwingt bei der Betrachtung immer mit – gerade auch für denjenigen, der ihn nicht gelesen hat. Vielleicht ist ein gutes Buch bereits Museum genug. Wie weit trägt die einer bestimmten Zeitspanne zugehörige Nostalgie? Wohl exakt so weit, als diese Zeit etwas wirklich Besonderes vorstellt, das sich gegen bereits vorhandene oder neue, nachwachsende Nostalgieschichten zu behaupten vermag. Eine solche Besonderheit konnte ich, so anrührend ich den vorgefundenen vitrinierten Alltag teilweise fand, zwischen all dem Pressevertretergehüpfe des Präsentationstages im Zusammenspiel der Exponate nicht ausmachen.

Nach dem Besuch von Pamuks weinrotem Museum in der hübschen Çukurcuma Cd. traf ich auf Godzilla. Er grüßte freundlich und erzählte mir lausbübisch lachend, wie er in der Gasse als Monster die kleinen Kinder erschrecke, die dann schreiend vor ihm davonliefen. Dazu stampfte er vor dem “Museum der Unschuld” herum und ruderte wild mit den Armen. Godzilla war eines dieser Freundchen, welche gerne mit Ausländern reden, ein sympathischer Rentner in diesem Fall, mit einer Godzilla-Schirmkappe. Ein paar Grundschüler kamen die Straße runter und frotzelten den Mann. Die Straße, meinte Godzilla, sei wegen des Museums komplett neu gemacht worden. Nun wurde sie von einem schweren schwarzen Mercedes mit wichtigem Kennzeichen blockiert. Ich schaute mir die Straße genauer an. Einiges an idyllischem Verfall, Pamuks Museum war so weinrot gestrichen in der hellen, grauen Umgebung ein sehr auffälliger Farbfleck. Wie wäre es, ging mir durch den Kopf, um die Gegend noch weiter aufzupeppen, direkt gegenüber das „Museum der Schuld“ einzurichten? Giftgrün müßte es angemalt, besser: angesprayt werden; das Buch dazu ließe sich später schreiben – und als Eingangsexponat stünde schon mal fest: ein nuklear leuchtender Granny Smith.

* Und was sie alles filmen! Ein zwei Tage später war ich in der „Kulturzeit“ auf 3sat als Medienvertreter zu bestaunen.

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