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Posts Tagged ‘Möwen’

Vom Fliegen

Beeindruckt hat mich die explosive osmanische Luftfahrtgeschichte und ihr Verpuffen in den Angsträumen der Macht. Ihre Existenz war mir völlig unbekannt. Meiner Schulbildung zufolge hatten die Marken der Aeronautik im Wesentlichen Daedalus und Ikarus, Leonardo da Vinci (der auch eine nie umgesetzte Brücke übers Goldene Horn entwarf), die Brüder Montgolfier, der Schneider von Ulm, Otto Lilienthal und die Brüder Wright gesetzt – eine ziemlich westliche, und im Speziellen sehr deutsche Sichtweise. Wenn ich mich recht erinnere, war der einzige Schulstoff, der mich je mit dem Osmanischen Reich konfrontierte ein Kanongesang, demzufolge wir Erstklässler nicht zuviel Kaffee trinken sollten wie die nervenschwachen, kranken, koffeinsüchtigen Muselmanen.

Am Galataturm erblickte ich eine Bronzetafel, die den Flugpionier Hezarfen Ahmet Çelebi ehrt. Nach ein wenig Recherche fand ich die knappen Zeilen des Chronisten Evliya Çelebi, welcher Hezarfen Ahmets Flug in seinem Reisebuch (Seyahatnâme) auf 1632 datiert: „Am Anfang übte er, indem er acht- oder neunmal, den Wind nutzend, mit Adlerflügeln über die Kanzel von Okmeydanı flog. Dann, als Sultan Murat IV. von der Sinan Pascha-Villa in Sarayburnu zusah, flog er von ganz oben vom Galataturm und landete mithilfe des Südwestwinds am Doğancılar-Platz in Üsküdar. Daraufhin belohnte Murat IV. ihn mit einem Sack Goldmünzen und sagte: „Dies ist ein furchteinflößender Mann. Er ist fähig zu erreichen, was er will. Es ist nicht richtig, solche Leute zu behalten“, und sandte ihn ins Exil nach Algerien. Dort starb er.“

Auf diesen Zeilen gründet also die Legende des weltersten Interkontinentalflugs. Zwar wird dem Autor ein Hang zur Übertreibung nachgesagt und ein erfahrener Drachenflieger, den ich auf der Turmbrüstung um seine Einschätzung bat, zeigte sich überaus skeptisch, was das Erreichen der anderen Bosporusseite mit einem modernen Gleitschirm beträfe, doch ist Hezarfen Ahmet Çelebi aus dem türkischen Volksflugempfinden nicht mehr wegzudenken. Die illegalen Ornithopter-Händler von Kuledibi variieren seine Geschichte gegenüber den Touristen, nicht zuletzt auch auf Basis des Spielfilms „Istanbul Beneath My Wings“ (İstanbul Kanatlarımın Altında) von Mustafa Altıoklar.

Der Film von 1996 packt die historische Notiz in eine erweiterte Dramaturgie: Hezarfen Ahmet gelangt über eine venezianische Sklavin an Leonardo da Vincis verschlüsselte Vogelflugstudien, dieweil Sultan Murat IV. die halbe Stadt abschlachtet, um die ausufernde, beinahe kölsch-katholisch wirkende Dekadenz einzudämmen. Istanbuls Sittenbild äußert sich in Bootsnächten auf dem Bosporus, Gelagen, Intrigen, taumelnden Omar Khayyām-Zitationen und wohlbekannten Möwentönen. Die europäische Inquisition spiegelt sich in Drangsalierungen Hezarfens (der Beiname bedeutet in etwa „Vielgelehrter“). Der geistliche Berater des Sultans hält Flugversuche für gottesfremd. Hezarfen kommentiert die Nachricht von Galileis Prozeß: „Ein Wissenschaftler darf nicht widerrufen!“ Sultan Murat IV., der mit Massenexekutionen gegen Opium-, Alkohol-, Kaffee- und Tabakkonsum vorging, vermeldet der Abspann süffisant, soll mit 27 Jahren an Leberzirrhose gestorben sein.

Doch noch einmal zurück zum Anfang. Oben erwähnte Westentaschen-Ahnenreihe der Luftfahrt legt auffällig viele innerfamiliäre Interessensparallelen nahe, zumal auch Otto Lilienthal gemeinsam mit seinem Bruder Gustav an Flugmaschinen bastelte. So gesehen erstaunt es wenig, daß Ahmet Çelebi einen flugbegeisterten Bruder besaß: Lagâri Hasan Çelebi. Äußerst erstaunlich ist dessen Leistung. Ein Jahr nach der Bosporus-Überquerung seines Bruders Ahmet, schoß sich Lagâri Hasan als welterster Rocketman gen All. Er wolle mit Jesus im Himmel sprechen, gab er als vernünftiges Grundziel an. Um es zu erreichen, soll er einen raketenartigen Spezialanzug gefertigt haben, den er mit Schwarzpulver füllte. Innert 20 Sekunden ging sein Flug von Sarayburnu 300 Meter steil in die Lüfte, behauptet die zeitgenössische Berichterstattung (erneut: Evliya Çelebi). Den anschließenden Fall in den Bosporus soll Lagâri Hasan mit einem Schirm abgedämpft und überlebt haben. Auch er wurde zunächst vom Sultan belohnt und dann verbannt.

Woran erinnert mich all das? Ist es nicht am Rhein neuerdings üblich, daß zu Christi Himmelfahrt vatergewordene Jesusse, wenn schon nicht in die Stratosfäre, so doch, von Spirituosen beflügelt, in außergewöhnliche geistige Höhen aufsteigen, um mit salafistischem Bodenpersonal zu debattieren? Oder bringe ich da gerade etwas durcheinander? Der Himmel über Istanbul ist heuer jedenfalls nicht mehr von Raketen- und Vogelbrüdern bevölkert. Es patrouillieren dort Möwen und gelegentlich Hubschrauber, während im Hintergrund ein majestätischer Airbus vom Sabiha Gökçen Flughafen abhebt oder auf dem Atatürk Flughafen landet. Urbane Fluggefühle stellen sich ein im Türk Balon Cafe in Kadıköy, das an schönen Tagen bis 100 Meter über den Meeresspiegel emporsteigt, ein wenig auch in den Seilbahnen vom Maçka Park und in Eyüp, stets jedoch auf meiner abendlichen, vogelumkreisten Dachterrasse. Und manchmal sehe ich von dort schaudernd eine Sternschnuppe in den Bosporus fallen und einen überflüssigen Fisch erschlagen, der drunt im Wasser zuviel Unsinn gepredigt hat.

Schlendern durch Istanbul (2)

„Die Arbeit fängt der Muselmann
Moschee in Allah Ruhe an“
Michael Schönen

Daß in Istanbul alles Istanbul ist, habe ich begriffen, nachdem Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Städten zwar zahlreich ins Auge fielen, die Vergleiche auf den zweiten Blick jedoch wenig standhielten. Orient und Okzident prallten in dieser Stadt aufeinander, heißt es. Das mag sein, ich spürte jedoch keinen Aufprall. Istanbuls Straßen bestehen vielmehr aus Geschiebe. Gemischter Gemengelage. Gedrängel. Selbst ein paar tausend Kilometer tiefer im Osten sind Großstädte längst teilverwestlicht. Viel mehr als diese oft beschworene und dabei kaum je über Klischees erhabene „Kluft der Kulturen“ (wie ich sie von klein an zwischen Badenern und Schwaben kenne) interessierten mich als literarischen Gastarbeiter Berichte über Callcenter, die sich in Istanbul verstecken, und deren Mitarbeiter, zurückgewanderte Deutschtürken, unter deutschen Aliasnamen deutsche Haushalte „aus Fulda“ anrufen, um „Marketing“ zu betreiben, eine Situation, bei der, grob formuliert, im Osten Westen auf Westen prallt. Nein, falsch! Geschiebe trifft es auch hier besser als Aufprall. Im Geschiebe malmen mindestens vier Dimensionen und verspotten die übliche Berichterstattung.

Der erste Moscheebesuch meines fortgeschrittenen Lebens war eigentlich bereits der anderthalbste. Denn bevor ich die Yeni Cami betrat, war ich in der Hagia Sophia, die lange Zeit als Moschee diente und nach Ansicht einiger besonders religiöser Studenten bald auch wieder dienen soll. Lange habe ich Moscheebesuche aufgrund der Zwangsvorstellung abgelehnt, mir könnten währenddessen die Schuhe geklaut werden. Im Vergleich zu meiner restlichen Kleidung trage ich ziemlich teure Schuhe, sie haben mich über unzählige Asfaltkilometer begleitet und meine Liebste hat sie mir geschenkt, was sie mir doppelt und dreifach wertvoll macht. Hinzu kam, daß viele von Straßenhändlern angebotene Schuhe stark nach den Schuhablagen der 1001 Istanbuler Moscheen rochen. Natürlich erwies sich meine Zwangsvorstellung als irrig: jedermann darf seine Schuhe in die Moschee mit hinein nehmen, nachdem sie ausgezogen und in einem Beutel verstaut sind.

Das Innere der Yeni Cami, welche der Hagia Sofia nachempfunden ist, vermittelte eine religiös grundierte Gelassenheit, wie ich sie in Kirchen kaum je gefunden habe. Touristen wird auf Spanisch mitgeteilt, in welchem Bereich sie zurückbleiben sollten. Für meinen Gebotsübertritt interessierte sich kein Mensch: ich begab mich in eine lauschige Fensternische, ließ mich auf dem wunderbar komfortablen Teppich nieder und wartete, ob Geist auf mich kommen würde. In anderen Nischen saßen Betende, aus der Kuppel senkte sich ein Kronleuchter über den gesamten Hauptraum, das einströmende Licht verteilte sich in schönster Gleichmäßigkeit. Dem Geist waren jedenfalls Tür und Tor geöffnet. Bald erschien ein Rezitator und gab einen Sermon von sich, dessen melodische Performance einer gewissen Eintönigkeit nicht entbehrte, die sich dennoch positiv gegen nahezu alles abhob, was ich an Vergleichbarem aus deutscher Priesterkehle je zu Ohren bekam. Als ich aus der Moschee trat, sah ich den Geist als Möwe sich silbrig im Sonnenglast lösen.

Durch Zufall, ich folgte einfach einer deutschsprachigen Meute, die in der Syrischen Arkade (Suriye Pasajı) einen Treppenaufgang stürmte, geriet ich in einen stuckverzierten Siebenzimmer-Leerstand in der obersten Etage. Angekommen, bemerkte ich: die von der Meute avisierte Wohnung gehörte meinem Vermieter. Der dort hinter einem Tresen stand und sich über die Meute freute. Mein Vermieter ist einer der bekannteren Wohnungsspekulanten Beyoğlus, ein Motor der örtlichen Gentrifizierung, deren Auswirkungen er angeblich, in Anverwandlung klassischer Doppelmoral, bedauert. Gerne sähe er sich als Mäzen wahrgenommen, doch hat ihn bei Mäzenatentaten, die diesen Namen verdienten, noch selten jemand erwischt. Als ich den Beste Lage-Leerstand betrat, tippte ich auf eine vermakelte Wohnungsbesichtigung mit champagnösem Abschluß. Tatsächlich gab es eine Lyriklesung, d.h. stilles Wasser und Verweilzeit für eine zähe halbe Stunde. Bei Lyriklesungen, diesen von allseitiger Ahnungslosigkeit gefährdeten, sensitiven Darbietungen, schaue ich mir zur Ablenkung meist die Gesichter des Publikums an, entweder, weil mein Blick von der Bühne auf eben dieses Publikum fällt, oder um herauszufinden, was um Gottes Willen die Leute zu den Auftritten meiner Kollegen treibt.

Während des lyrischen Intermezzos mußte ein Satz über Amseln gefallen sein; es zog mich plötzlich mit aller Macht hinfort. Ins Hoheitsgebiet der Vögel. Dazu erklomm ich die Dachterrasse meines Wohnhauses und sann, wem wohl der Grund unterm Arsch weggentrifiziert worden war für meinen efemeren Bosporusblick. Ein quietschbunter Ornithopter querte meine Gedanken und landete im Oleander. Auf meiner Dachterrasse stehen nämlich in gewaltigen Tonnen Jasmin- und Oleanderbüsche. Wenn ich diese Büsche imitiere, werde ich bald von Spatzen angeflogen. Ich mache das nur sehr selten. Genieße vielmehr und viel lieber die Nähe zum Himmel, den supersokağischen Raum, erfüllt von Vogellauten, Schiffshupen, von Hauswänden gebrochenem Gebetsrufwaber und gelegentlichem Gewitterdonner. Drei Möwen jagten nun unter triumfierendem Gelächter einen passierscheinlosen Fischreiher. Brieftauben flatterten durch ihre Trainingsschlaufen. Mauersegler stürzten wie irre durch die Lüfte und stießen schrille Sriieps aus. Von der Gasse her maunzte es. Marie T. Martin schrieb einmal, die Katzen seien die heimlichen Besitzer Istanbuls. Ich glaube das nicht. Was sollen „heimliche Besitzer“ sein? Die Seelen der Obdachlosen und Weggentrifizierten? Die Katzen trauen sich garnichts gegen die Möwen, auf deren Dung die Stadt gewachsen ist. Und Möwen können, ganz im Gegensatz zu Katzen, fliegen, ohne dafür zuerst von Autos überfahren werden zu müssen.

İstiklal Caddesi

Ein im Wortsinn mitreißendes Fänomen Istanbuls stellen die stromernden Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi vor: U-Bahnen, Seitenstraßen, Passagen, Shops, Malls, Konsulate, Schulen, Tourismusratgeber und die Arbeitslosigkeit füttern der Flaniermeile ununterbrochen Frischfleisch zu. Auf dem Pflaster schliddert es in einen Film, organisiert sich zu sardinösem Geschwärme, zuckt, flockt, stockt, zieht, flieht und läßt sich, beim Versuch sich selbst zu imitieren, punktuell zu Euforie verleiten. Tanz, Gesang und Schreie. Malmende Müllpressen und historisches Tramgebimmel. Leben im Permagemenge. Heute ist immer. Heute wird demonstriert, gegendemonstriert, gekauft, geklaut, sich umgeschaut, wird Bein gezeigt und Macht. Arglos zielen die Maschinenpistolenmündungen der strammgebügelten Staatsrepräsentanz auf die Hüften der Bürgerschaft. Die ist nur ein Chamäleon in blütenweiß, ukrainischblond und tschadorschwarz.

Verwunderlich, daß dieser gepflasterte Bosporus nicht irgendwann komplett verstopft, bis die Menschen weder ein noch aus können und hysterisch an sich selbst ersaufen, ob knarretragender Rempelbruder, beliebter Stargast, vergleichende Sprachwissenschaftlerin oder überkommener Flaschengeist. Weil die İstiklal direkt auf meinem Weg nach da und dort liegt, tauche ich alltäglich in diese Flucht mit ihren Seiten-, Unter-, Neben- und Hauptströmungen. Dafür trage ich lediglich eine Schutzbrille mit mir, und Sauerstoff für eine halbe Stunde. Meist gilt: schnell da rein und schnell wieder raus! Erste Bewegungen im All. Dann und wann aber verlangsame ich meinen Gang bei alten stoppelbärtigen Männern, die in Halbtrance meisterhaft magische Weisen fiedeln, dieweil ihnen ein Kind als lebender Mikrofonständer dient. Und mein deutsches Herz verwandelt sich in eine Blutlache.

Das arme Herz wird schnell wieder schockgefroren. Von osmanisierten Speiseeisjongleuren, deren Glockengedengel. Alarm! Überfall! Die Schaufenster haben sich zusammengerottet und greifen an: bis zur völligen Nacktheit enthüllte Pistazien rammen mastixgehärtete Granatapfelpasten, vor Farbenlast quietschende Lokumeinheiten, anrobbende Süßwarenschwadronen, nussige Rekruten im Schlamm des großen Sirupmanövers, in den Seitenstraßen kommandiert General Rakı die berühmten Freischärler des tscherkessischen Huhns, die Seifenblasenpistolenverkäufer mit den Cristiano Ronaldo-Frisuren verteidigen ihre Stellungen, schießen mit extrafrequenten Hirnwäschen, über das Pflaster wehen wie tibetische Gebetsfahnen im Wind die Rauchzeichen der Maronimanen.

Die İstiklal ist mit Sicherheit eine der schlimmstvorstellbaren Martern für Soziofobe der ganzen Welt. Sie bietet aber auch vedutentaugliche Idyllen. Ein junge Frau schläft im Sitzen, gelehnt an den Eingang zur Metrostation Şişhane. In ihrem weit gen Himmel aufgesperrten Mund liegen einige Geldmünzen. Direkt daneben wippen fünf Panflöten-Indios ihren Folkloretakt. Sie haben den obligaten Kondor einst von mächtigen Yatiris in die Tunnel ihrer Instrumente bannsprechen lassen, aus denen sie ihn seit Jahr und Tag auf sämtlichen Einkaufsmeilen der Welt wieder hervorrufen, um die Sehnsüchte der Passanten aufzuscheuchen. Warum sollten sie ausgerechnet die İstiklal verschonen? Apropos Kondor. In Istanbul habe ichs mit den Vögeln. Die Vögel, fiel mir auf, sind auch die eigentlichen Meister meines Wohnviertels. An ihrem Mit- und Gegeneinander pendelt am seidenen Faden in Istanbul mindestens ganz Beyoğlu. Die Häuser, das Meer, sogar viele Menschen in dieser wimmelnden Stadt: nichts als ein Marionettenspiel der Möwen, Schwalben, Reiher, Spatzen.

Wie meisterhaft die Vögel in Istanbul agieren, wurde mir ausgerechnet auf der İstiklal bewußt. Ich ließ mich mit den Massen Richtung Galatasaray-Platz treiben. Da nahm ich auf einmal ganz überkandidelte Vogelstimmen wahr. Aufgeregte Stimmen eines schrillen Gesangs, der knapp über meinem Schädel stattfand. Ich hielt inne und legte meinen Kopf in den Nacken. Dort, wo sie meinem akustischen Empfinden nach hätten sein müssen, waren keine Vögel vorhanden. Verrückt! Der merkwürdig gestörte Gesang drang aus der Leere zwischen den Hausfassaden. Ich erinnerte mich: genau so einen Gesang fabrizierten die elektronischen Vögel, die Guerilla-Stadtverbesserer vor einem Jahr in Köln ausgesetzt hatten. Diese E-Birds bestanden aus umgelöteten Alarmanlagen, die bei Luftzug auf Vogelgezwitscher verfielen. Sie mußten sich inzwischen nach Osten ausgebreitet haben. Nun hielten sie sich als unauffällige Klemmteile an den Oberleitungen versteckt und hatten den Luftraum der İstiklal besetzt. Als sie merkten, daß ich ihrer Tarnung auf die Schliche gekommen war, verstummten sie. Mehr als das, sie webten direkt über mir eine Leere aus purer Stille – einzigartig und wunderschön, deutlich wahrnehmbar und zugleich völlig unerreichbar. Ich blickte mich um und sah, wie einige Leute inzwischen meinen Himmelsblick kopierten. Einem von ihnen prangte eine große Möwe auf dem T-Shirt.

Yön Radyo

Wenn ich auf meiner Terrasse in den von Mauern begrenzten Himmelsausschnitt und den Möwen nachschaue, die um den nächtlichen Galataturm kreuzen wie Insekten um eine Laterne, wobei die bisweilen aufkreischenden Vögel vom Stadtlicht orangehell beleuchtet werden, was sie kontrastreich gegen den tiefblauen Nachthimmel abhebt und sie ziemlich einzigartig macht – wo auf der Welt gäbe es sonst orangefarbene Möwen? – dann lausche ich gerne im Hintergrund den Klängen von Yön Radyo. Diesen (in meiner Wohnung über Antenne nur leicht verrauscht zu empfangenden) Sender mit seinem orientalisierten Waterloo Sunset-Jingle habe ich am Tag meiner winterlichen Ankunft entdeckt und seither keine Veranlassung gehabt, ihn zu wechseln.

Von der ersten Minute an fesselten mich die Arabeske-Popsongs, welche die meiste Zeit des Tages laufen: ein ewiges Gedudel aus tausendundeiner musikalischen Feinheit und einer schwebenden, oft traurigen Stimmung, die mir das Leben erträglicher gestalten hilft, weil ich bemerke, daß ich, gönnte ich meiner lyrischen Gastarbeitereinsamkeit ein ähnliches Pathos, wohl unverzüglich implodieren würde. Also versuche ich mich zu orientalischer Radiomusik an würdevollen Global Heimat-Punk-Versen mit temperierten Gefühlsspritzern. Gleichzeitig egalisiert der Sender das nervtötende Gegacker meiner jungen Nachbarin und ihrer amüsierwütigen Gäste, welches Abend für Abend in Intervallen meine Terrasse durch die Oberlichter bedrängt. Desweiteren hilft Yön Radyo beim Chinesisch lernen. Wer schon Türkisch kann, kann sein Spektrum mindestens aufs Küchenchinesische erweitern. Ich kann eigentlich kein Türkisch, aber da ich z.B. weiß, was Kreditkarte auf Türkisch heißt, vermag ich Kreditkarte nun auch auf Chinesisch zu sagen.

Vor dem Chinesisch-Crashkurs werden Kochrezepte gesendet, die sich kein Mensch merken kann. Zunächst werden grammgenau die benötigten Zutaten aufgezählt: die türkische Küche kennt Unmengen davon. Danach wird in mindestens 15 Schritten die Zubereitung erklärt. Wer sich bei Schritt 2 noch an sämtliche Zutaten erinnert… – ich würde nicht zögern, sein Erinnerungsvermögen genialisch zu nennen. Das ganze Rezept wird von einer Sprecherin in maximal einer Minute durchgenudelt. Besteht die türkische Radiohörerschaft zu erheblichen Teilen aus Gedächtniskünstlern, rasanten Schnellköchen und ausländischen Dichtern?

Zwischenrein laufen Reklame und Weltnachrichten. Ich lausche dem angenehmen Klang der türkischen Sprache und wünsche mir in einem Anfall nationaler Selbstzerfleischung, auch mein Geburtsdeutsch klänge im Grundton bereits ähnlich geschmeidig und weniger bellend. Während ich den Nachrichten ganz so wie zuhause in Deutschland zuhöre, bemerke ich, daß ich ihren Wortlaut nicht verstehe, allenfalls einzelne Partikeln auffange, daß dieses Nichtverstehen aber garnichts zu bedeuten hat, weil die Nachrichten des gesamten Erdenrunds sowieso fast immer nur dasselbe beinhalten – und für mich so gut wie niemals etwas von persönlichem Belang.

Dann folgt wieder, was ich liebe: Arabeske-Pop mit gedehnten, vibrierenden Silben, ein unaufhörliches Dozieren, daß (so vermute ich zumindest) von Liebe und Schmerz handelt, dem Druck des Lebens, den kleinen Siegen und Niederlagen, bevor das Spiel von vorne beginnt. Diese Musik hat es mir vom ersten Takt angetan; vermischt mit dem leiernden Ruf des Muezzins, der aus einigen von Allahs unergründlichen Himmelsrichtungen auf meine Terrasse weht, wird sie zur Fähre in eine zweite Wirklichkeit. Dann fühle ich mich plötzlich auf einem mit bunten Zuckerworten beworbenen Luftpolster, auf dem ich mich in traumähnliche Gegenden entferne. So drehe ich eine Runde über den Bosporus, umfliege die beleuchteten Türme der alten Janitscharen-Kaserne und zupfe im Vorbeigleiten den orangefarbenen Möwen neckisch an den Schwänzen. So kann ich ganze Abende verbringen. Dichter sind in bestimmten Stimmungslagen zu wenig mehr fähig, als sich sinnlos in den Untiefen des Abends zu verlieren. Wenn es gut läuft und sie wieder herausfinden, geben sie nachher der Welt in seltsamen Geschichten davon Rechenschaft.

Eines Nachts dachte ich, nachdem ich mehrere Gläser Whiskey getrunken hatte, ich hätte aus Versehen den Sender gewechselt. Ich habe das gleich überprüft. Der Senderbalken stand wie immer auf 96,6. Doch statt Arabeske-Pop lief auf Yön Radyo nun plötzlich mitteleuropäische Klassik – zu meinem allerbesten Erstaunen im übergangslosen Wechsel mit zombieesk geröcheltem Death Metal der grabestiefsten und teuflischsten Sorte. Die Türken, dachte ich da, und verfiel ansatzlos in whiskeysches Verallgemeinern, also, meine Herrn, die Türken: so wenig ich sie kenne, sind sie doch immer für eine Überraschung gut!

Auf die Frage eines Lesers, ob es in der Türkei Tauben gäbe

„Les tourterelles nichent dans les noirs feuillages, et les gypaëtes planent au-dessus de leurs pointes sombres, traçant des grands cercles sur le ciel d`azur.“ Théophile Gautier, Constantinople

Von der Türkei habe ich bisher nicht mehr gesehen als einige Ecken Istanbuls. Es gibt in Istanbul reichlich Tauben. Darunter eine Art, die deutlich kleiner ausfällt als die am Rhein beheimateten: die sogenannte Palmtaube. Palmen konnte ich in Istanbul kaum häufiger als in Köln entdecken. Palmtauben traf ich daher entweder auf dem Straßenpflaster, oder auf Dachterrassen. Ihre geringe Größe läßt sie „jung“, ihr Gefieder in Rosttönen läßt sie modisch erscheinen: von einem geschmäcklerischen Darwinismus mit der istanbultypischen Melange aus Verfall und Neubau abgestimmt – was ihnen, zumal in einem künstlich wirkenden Künstlerviertel wie Kuledibi, einen bohèmehaften Anstrich verleiht – während sie verwirrt durchs in den Gassen großzügig ausgestreute Katzentrockenfutter schreiten. Es gibt in Istanbul desweiteren Tauben in der uns Deutschen bestens vertrauten Größe, mit den bekannten Verhaltensmustern. Es handelt sich dabei um (sic!) Türkentauben einerseits, sowie Stadt- oder Straßentauben andererseits.

Bei der Neuen Moschee (Yeni Cami) in Eminönü stieß ich auf ein lockeres Szenario von Instant-Buden, die aus dem Augenwinkel so selbstgezimmert wie transportabel aussahen und von denen bis auf eine alle außer Betrieb waren. In diesem Kabuff kauerte eine runzlige, bucklige, aus Grimms Märchen entflohene Alte. Sie wies mit der Hand auf einige Teller voller Krümel, die auf ihrem Kabufftresen standen, und schaute mich erwartungsvoll an. Ich fragte mich, welche Sorte schlichten Knabberzeugs sie mir anzubieten hätte, als sie unvermittelt einen langen Stock hervorzog und damit gegen das Budendach schlug. Sie hatte nämlich gehört (oder mittels ihres unsichtbaren Auges erkannt), daß dort oben Tauben gelandet waren. Da zündete bei mir der Funke der Erkenntnis: die Dame verkauft Taubenfutter! Fertig auf Tellern portioniert! Und damit die Tauben nicht an das Futter gelangen könnten, bevor es von einem Gönner bezahlt war, mußte sie die Vögel mit ihrem Stock vertreiben. Es heißt ja, der Handels- und der moralische Trieb schlössen sich gegenseitig aus. Dieweil der Muezzin zum Gebet rief, sah ich vor der Yeni Cami, unter Ausdruck frappanter Armseligkeit, beide Triebe sich überkreuzen.

Nachdem ich die Taube einst als Wappentier der Stadtflaneure, Lyriker, Erwerbs- und Obdachlosen („graues wetter, taubengrau…“) Kölns bedichtet habe, ist dies also eines meiner eindrücklichsten Istanbulbilder bisher: die bucklige Alte, welche die Tauben vom Taubenfutter, das sie verkauft, vertreibt. Ein simples Bild, das die gesamte Verzweiflung des Daseins geballt enthält. Die Tauben dürften in etwa die zweithäufigsten Vögel Istanbuls vorstellen. Die häufigsten sind die Möwen, die entsprechend in meiner hiesigen Textproduktion vorkommen – also mindestens eine, gerne auch zwei oder mehr pro Text. Auf den Dachplanen der Fähren verzerren sie ihre Körper bei abstrusen Schattenspielen zu Störchen oder noch aberwitzigeren Fysiognomien, im Abenddunkel gleiten sie vom Stadtlicht orangehell beleuchtet unter tiefblauen Himmeln herum – scheinbar befangen in der Möglichkeit, die ganze Himmelsweite einmal so richtig ausnutzen zu sollen. Wenn sie die Fähren begleiten, erreichen ihre kopflosen Flugformationen psychedelische Momente, die beim Betrachter zu intensivem Schwindel führen. Auf den Fähren wird zu diesem Zweck Möwenfutter verkauft und mancher Fischhändler und Restaurantbetreiber füttert seine Hausmöwe mit Sardellen, Fritten und sonstigen Lieblingsspeisen.

Desweiteren gibt es noch Kormorane und Reiher, insgesamt also vornehmlich Vögel, die größere Mengen Kot zu fabrizieren imstande sind. Der Istanbuler hat immer ein Auge am Himmel. Desweiteren gibt es noch Spatzen. Andere Vögel habe ich eher selten angetroffen. Einmal sah ich einen Hahn. Das war vor einem Hauseingang in einer Seitengasse in Cihangir. In der Fußgänger-Unterführung zum Ägyptischen Basar (Mısır Çarşısı) fliegen künstliche Vögel über den Türen der gläsernen Lädchen unermüdlich ihre Runden durch die Laserlichter. Eine Schnur hindert sie am Entkommen. Sie sind bunt angemalt und kosten 10 YTL. Am Galataturm sah ich einen künstlichen Vogel in Freiheit. D.h., ich sah zunächst in das entrückte Gesicht eines Hippies, der zugleich tänzerisch einen Flug nachzuahmen schien. So etwas habe ich schon oft gesehen, nicht selten war solcherlei Verzückung nur aufgesetzt, bzw. auf-Teufel-komm-raus selbstinduziert. Doch als ich dem Blick dieses Hippies folgte, schien mir seine Ekstase durchaus gerechtfertigt: Ein stilvoll kriegsbemalter Kunstvogel schwirrte durch die Lüfte. Mal flügelschlagend, mal segelnd, erfreute er sich, in selten gesehenen Flugkapriolen, zwei drei Meter über den Köpfen der Passanten, seiner Freiheit. Das ging minutenlang. Der Hippie wies uns Passanten auf den Vogel hin und rief ihm, beinahe zwitschernd, sanfte Freudenbezeigungen nach. Die meisten Passanten hatten freilich besseres zu tun, als den Hippie zu beachten. Der Vogel stürzte schließlich um zwei Ecken davon in eine Gasse.

Genau dieselbe Gasse übrigens, in der ich erstmals Palmtauben gesehen hatte. Damals beäugten wir uns gleichermaßen kritisch (wobei es heißt, Tauben besäßen kaum mehr als ein Spatzenhirn), die Palmtauben machten zumindest auf kritische Außendarstellung, was in diesen schnelllebigen Zeiten ja meist schon zureichend Eindruck schindet. Wir redeten nicht viel, sondern beließen es beim Beäugen. Heute grüßen wir uns, ohne zu äugen. Die Macht der Gewohnheit schwemmt vieles Unausgesprochene schnell unter den Tisch.

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