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Schlendern durch Istanbul

Nach „speziellen“ Istanbulmomenten gefragt, kann ich nicht mit letzter Bestimmtheit sagen, ob es solche überhaupt gibt, doch bin ich bei meinen Spaziergängen und Fährfahrten durch das weitläufige Zentrum der Stadt einigen Fänomenen begegnet, die mir „besonders“ und womöglich „istanbulspezifisch“ vorkamen. In dieser Doppelhinsicht am stärksten beeindruckt hat mich ein mehrfach täglich wiederholter poetischer Moment: die sich überlagernden, wellengeschaukelten Stadtviertel Cihangir und Üsküdar auf der halbverspiegelten Scheibe einer Bosporusfähre, Sinnbild u.a. für den Tanz auf dem Vulkan einer erdbebengefährdeten Stadt. Ebenfalls auf den Fährschiffen, aber häufiger noch in den Straßen sah ich junge Frauen in grenzwertigen Verrenkungen posieren. Als ad hoc-Kulissen dienten ihnen parkende Motorräder, gußeiserne Fenstergitter oder einfach nur der von ihnen zu füllende/zu überstrahlende, im Grunde bedeutungslose Ort. Absurd wirkten die Posen vor allem, wenn ihr Fotograf, was nicht selten vorkam, zunächst außerhalb meines Blickfeldes agierte.

Als ich einmal gedankenversunken die Fahrbahn der Yeni Çarşı Caddesi hügelan trottete, kam mir mit einigem Tempo ein Mann entgegen. Er rief mir zu, ich solle ihm ausweichen. Unter seinen Ellbogen klemmten die Griffe eines schweren Müllkarrens. Dieses Geschoß in seinem Rücken verhalf ihm anscheinend zu einem gerüttelt Maß Extraspeed. Ich schätzte sein Tempo auf gut 30 km/h. Der Mann schlidderte auf seinen Schuhsohlen den Abhang hinab. Er wirkte nicht, als wäre er fähig, den gewonnenen Schwung aus eigener Kraft zu bremsen. Die Müllsammler Istanbuls sind gleichzeitig Mülltrenner: sie durchsuchen den Hausmüll nach recyclebaren Inhalten. Ihre Zunft ist zumeist ärmlich gekleidet, ich habe aber auch Müllsammler im Anzug arbeiten sehen. Ihre spezielle Fortbewegungsart hangab verdiente eine eigene Nomenklatur. Gewiß wird noch ein findiger Kopf eine Funsportart aus dem Müllmänner-Hangschliddern entwickeln, um sich am Zubehörvertrieb eine goldene Nase zu verdienen.

Die Theodosianische Mauer steht seit 1500 Jahren und gilt als Meisterwerk der Stadtbefestigung. Daß sie auch bewohnt ist, hat mich irritiert. Als ich das von Kanonenkugeln und Verwitterung angegriffene, teils restaurierte Bollwerk entlangschritt, sah ich wie aus einem Mauerloch in Überkopfhöhe diverse Gebrauchsgegenstände ins Freie gehievt wurden. Die Bewohner des Mauerlochs, eine ganze Familie, nutzten eine mobile Leiter zum Ein- und Ausstieg: im absoluten Zentrum Istanbuls findet sich tatsächlich noch vorantikes Troglodytentum. Die mehrspurige, stark befahrene Kennedy Caddesi direkt unterhalb der Mauer trennt die Troglodyten vom Marmarameer. Das etwas unmotiviert hinter der Fahrbahn herumliegt und mit Modernoten gegen die massiven Steinblöcke seiner Befestigung schwappt.

Gerne spaziere ich über die Promenade von Kadiköy. Dort gibt sich die Mittelschicht von der Sonne beleidigt. Gruppale Infekte flottieren gleich schadhaften Metafern. Im Mai explodiert mit ultrafrequentem Violettknall die Sukkulentenblüte von Moda. Strohige Blüten am Rande meiner farblichen Vorstellungskraft hängen in Leuchtbalken-Verbünden über die Vorgartenmauern. Städtische Großvertikutierer trimmen lärmend den ausgetrockneten Restrasen. Ich hüpfe nach einem Ast weißer Maulbeeren. Das System der Stare umwebt mich mit seinem Gefiepe. Das Glück von Kadiköy: ein baumschattiger Kaffee mit Delfinblick. Die Sonne entrollt übers Wasser einen Teppich genau auf mich zu. Er besteht aus weißgolden glänzenden Kugelblitzen und gleißenden Gaslichtern, blitzenden, blinkenden, auf den sachten Bewegungen der Wasserhaut irrlichternden Elektroklunkern, aufs Wasser gestreuten Sternen, die mir bedeuten, ich solle ihrem Geleit folgen, in die Weite des Meers hinaus schreiten, um mich endlich ganz in Blau aufzulösen.

Am Galatahügel fiel mir ein asiatischer Fotograf auf. Er trug einiges an professioneller Ausrüstung bei sich und war gerade dabei, die mit Aufklebern übersäte Verkleidung eines Kiosks zu fotografieren. Ich wunderte mich über sein Motiv. Da erschien ein Auto, mit der Absicht, genau dort zu parken, wo der Fotograf arbeitete. Als der sich weigerte, dem Fahrer Platz zu machen, tauchte ein Dutzend Heranwachsender aus dem Niemandsland der Nachbarschaft auf und trug den Asiaten samt seiner Ausrüstung beiseite, sodaß der Wagen einparken konnte. Der machtlose Asiate stampfte wütend unter lauthals ausgestoßenen Flüchen in astreinem Deutsch, wie unsensibel und kulturlos diese Nazitürken doch wären, davon.

Ich mußte mir ein wenig entrückt sein, denn von der Caféterrasse oberhalb der Nusretiye Moschee sah ich mich auf dem Oberdeck einer vorüberziehenden Fähre stehen, von wo mein Blick über ebendiese Caféterrasse schweifte, auf der an meiner statt jedoch ein ganz Anderer saß. Vom Vapur betrachtet schimmerte Tophane auf nie zuvor erblickte Art im neuralgischen Dunst gelben Abendlichts. Höchstwahrscheinlich hatte Gott persönlich dieses Licht mit großer Sorgfalt angemischt, solide aufgetragen und anschließend durscheinend gewischt. Und wo ich schon auf Gott verfiel, wurde mir schlagartig angst und bange, denn: nur zwei oder drei weitere solcher Wischgänge – und es würde von all dieser Schönheit und denen, die von ihr eingetüncht waren, nichts als eine komplett durchsichtige Leerstelle übrigbleiben.

Botox in Tarlabaşı

Zafer Şenocak schreibt in „Der Mann im Unterhemd“ sinngemäß, daß der Istanbuler Obst- und Gemüsehändler sich für seine verkorkste Sexualität an der Gesellschaft räche, indem er lauter vergammelte Ware anbiete. Wie immer Şenocak zu dieser Aussage fand: ich kann sie weder untermauern, noch dementieren. Tatsächlich findet sich auf Istanbuls Straßen minderwertige und verdorbene Ware alles andere als selten.

Auf dem Sonntagsmarkt von Tarlabaşı wirkt der weit überwiegende Teil des Angebots eher anständig und frisch. Der Markt kommt langsam in die Gänge, um 11 Uhr morgens sind noch längst nicht alle Stände aufgebaut, geschweige denn bepreist. Vor Sonne, Regen und Schnee schützt eine abenteuerliche Zeltdachkonstruktion. Heute prallte ich beinahe gegen eine ihrer improvisierten Stützstangen, worauf mir ein Händler lachend zu verstehen gab, daß ich im Erfolgsfall seinen Stand abgeräumt hätte.

Das Marktangebot ist knallbunt und preisgünstig. Zitrusfrüchte, Auberginen, Zucchini, Tomaten, Garnelen, Blaubarsche, Thunfischscheiben, rosige Rochenflügel, Curries, Knoblauch, Sumach und Lokum, sauer Eingelegtes, Fleisch, Nüsse, Ölweidenfrüchte, Maulbeeren, grüne Frühjahrspflaumen, just gefalteter Yufkateig, in Plastikeimern dümpeln frisch geschlachtete Artischockenherzen in Lake, die Männer hinter den Käse- und Olivenständen füttern blonde Europäerinnen mit Probierhäppchen satt, nebendran besabbert ein leicht idiotischer Händler seine Erdbeeren, daneben wieder ein freundlicher Alter, der außer seinem Lächeln kaum etwas anzubieten hat und von diesem Wenigen auch noch freimütig verschenkt.

Die Händler sind allesamt Männer, darunter einige Sänger und Glossolalisten und der ganzen Szenerie fehlt nur der bürgerliche Autor, der all das auf die Romantische beschreibt: vor Taschendiebstahl wird gewarnt! Bettler exponieren ihre eklatanten Körperschäden und nicht wenige der Händler sehen dreckig, krank und gebeutelt aus. Als Angehöriger des lyrischen Prekariats fühle ich mich auf diesem Markt wohler als auf der geleckten İstiklal.

Tarlabaşı gilt als Armenviertel, ehemals (bis zu den Vertreibungen) von Griechen bewohnt, dann von Roma und Kurden, heute Magnet für afrikanische Zuwanderer. Abseits des Markts dünsten Tarlabaşıs Sokaks und Schluchten nebst Ärmlichkeit auch uralte Hohlweggefahren aus. An Wohnungen, Läden und Gestalten finden sich mannigfache Wracks. Die Straßenhunde gucken linkisch aus der Wäsche. Kaum bin ich zehn Meter auf dieses Gelände vorgedrungen, komme ich mir vor, als würde ich gescannt: das Viertel registriert, daß ich da bin. Niemanden kümmerts, doch jeder weiß bescheid. Ein Friseurlädchen, das eher einer öffentlichen Verhörzelle ähnelt, bietet Botox an, dieses Wurstgift für wohlhabende Avantgarde-Ästheten, mit dem sich Gesichter mimikfrei spritzen lassen. Ob Botox in Tarlabaşı stark nachgefragt ist?

Ich schlendre über die Tarlabaşı Caddesi, jene wuchtige Autotrasse, welche das Viertel im Osten begrenzt, eine Schneise, die aussieht, als wäre sie mit Mittelstreckenraketen aus dem verklumpten Stadtgefüge freigeschossen worden. Ich blicke auf den Straßenverkehr, zugleich auf den löchrigen Fußweg und bröckelnde Hausfassaden. Ein Auge klebt immer am Himmel, aus dem so einiges herunterfallen kann. Plötzlich signalisiert mir eine Dame ihr Einverständnis – dabei habe ich sie garnichts gefragt. Sie ist einfach im Blickfeld zu meiner Rechten aufgetaucht, weil die Häuser dort von jetzt auf sofort nur noch aus Löchern bestanden. Verdutzt schaue ich in ihre Richtung, sie nickt erneut. Bewegt sich in einiger Entfernung parallel zu mir durch Ruinen und Schutt, trägt Sonnenbrille über straffer Bronzehaut. Botox! schießts mir durch den Sinn. Ihr Körper wirkt weiblich, aber nicht ganz. Wenn es sich um drei Uhr nachmittags für eine schnelle Nummer in dieses mitten in der Stadt gelegene Ruinenfeld verziehen läßt, dürfte die Hochrechnung für die Nacht die vollkommene Planierung des Geländes beinhalten.

Alte, moslemisch gekleidete, bärtige Männer sitzen am Straßenrand und atmen Bleidämpfe zu ihren Zigaretten. Schuhputzer mit blitzblanken, aber löchrigen Tretern. Teeistische Tagediebe und zänkische Vetteln. Längst schien mir, hätte die Vokabel „Vettel“ ausgedient, doch Istanbul hat noch massig solcher Gestalten auf Vorrat, speziell in Tarlabaşı, nebst Zwergen, Bohnengerichten und Transen. Ich gehe dort hindurch. Die Leute bleiben. Um sich selbst kreiselnde Schluchtenhocker. Es geht ihnen sichtbar nicht gut. Und genau dieser Umstand, stelle ich mit Erschrecken fest, wertet unter der Hand mein eigenes Befinden auf.

İstiklal Caddesi

Ein im Wortsinn mitreißendes Fänomen Istanbuls stellen die stromernden Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi vor: U-Bahnen, Seitenstraßen, Passagen, Shops, Malls, Konsulate, Schulen, Tourismusratgeber und die Arbeitslosigkeit füttern der Flaniermeile ununterbrochen Frischfleisch zu. Auf dem Pflaster schliddert es in einen Film, organisiert sich zu sardinösem Geschwärme, zuckt, flockt, stockt, zieht, flieht und läßt sich, beim Versuch sich selbst zu imitieren, punktuell zu Euforie verleiten. Tanz, Gesang und Schreie. Malmende Müllpressen und historisches Tramgebimmel. Leben im Permagemenge. Heute ist immer. Heute wird demonstriert, gegendemonstriert, gekauft, geklaut, sich umgeschaut, wird Bein gezeigt und Macht. Arglos zielen die Maschinenpistolenmündungen der strammgebügelten Staatsrepräsentanz auf die Hüften der Bürgerschaft. Die ist nur ein Chamäleon in blütenweiß, ukrainischblond und tschadorschwarz.

Verwunderlich, daß dieser gepflasterte Bosporus nicht irgendwann komplett verstopft, bis die Menschen weder ein noch aus können und hysterisch an sich selbst ersaufen, ob knarretragender Rempelbruder, beliebter Stargast, vergleichende Sprachwissenschaftlerin oder überkommener Flaschengeist. Weil die İstiklal direkt auf meinem Weg nach da und dort liegt, tauche ich alltäglich in diese Flucht mit ihren Seiten-, Unter-, Neben- und Hauptströmungen. Dafür trage ich lediglich eine Schutzbrille mit mir, und Sauerstoff für eine halbe Stunde. Meist gilt: schnell da rein und schnell wieder raus! Erste Bewegungen im All. Dann und wann aber verlangsame ich meinen Gang bei alten stoppelbärtigen Männern, die in Halbtrance meisterhaft magische Weisen fiedeln, dieweil ihnen ein Kind als lebender Mikrofonständer dient. Und mein deutsches Herz verwandelt sich in eine Blutlache.

Das arme Herz wird schnell wieder schockgefroren. Von osmanisierten Speiseeisjongleuren, deren Glockengedengel. Alarm! Überfall! Die Schaufenster haben sich zusammengerottet und greifen an: bis zur völligen Nacktheit enthüllte Pistazien rammen mastixgehärtete Granatapfelpasten, vor Farbenlast quietschende Lokumeinheiten, anrobbende Süßwarenschwadronen, nussige Rekruten im Schlamm des großen Sirupmanövers, in den Seitenstraßen kommandiert General Rakı die berühmten Freischärler des tscherkessischen Huhns, die Seifenblasenpistolenverkäufer mit den Cristiano Ronaldo-Frisuren verteidigen ihre Stellungen, schießen mit extrafrequenten Hirnwäschen, über das Pflaster wehen wie tibetische Gebetsfahnen im Wind die Rauchzeichen der Maronimanen.

Die İstiklal ist mit Sicherheit eine der schlimmstvorstellbaren Martern für Soziofobe der ganzen Welt. Sie bietet aber auch vedutentaugliche Idyllen. Ein junge Frau schläft im Sitzen, gelehnt an den Eingang zur Metrostation Şişhane. In ihrem weit gen Himmel aufgesperrten Mund liegen einige Geldmünzen. Direkt daneben wippen fünf Panflöten-Indios ihren Folkloretakt. Sie haben den obligaten Kondor einst von mächtigen Yatiris in die Tunnel ihrer Instrumente bannsprechen lassen, aus denen sie ihn seit Jahr und Tag auf sämtlichen Einkaufsmeilen der Welt wieder hervorrufen, um die Sehnsüchte der Passanten aufzuscheuchen. Warum sollten sie ausgerechnet die İstiklal verschonen? Apropos Kondor. In Istanbul habe ichs mit den Vögeln. Die Vögel, fiel mir auf, sind auch die eigentlichen Meister meines Wohnviertels. An ihrem Mit- und Gegeneinander pendelt am seidenen Faden in Istanbul mindestens ganz Beyoğlu. Die Häuser, das Meer, sogar viele Menschen in dieser wimmelnden Stadt: nichts als ein Marionettenspiel der Möwen, Schwalben, Reiher, Spatzen.

Wie meisterhaft die Vögel in Istanbul agieren, wurde mir ausgerechnet auf der İstiklal bewußt. Ich ließ mich mit den Massen Richtung Galatasaray-Platz treiben. Da nahm ich auf einmal ganz überkandidelte Vogelstimmen wahr. Aufgeregte Stimmen eines schrillen Gesangs, der knapp über meinem Schädel stattfand. Ich hielt inne und legte meinen Kopf in den Nacken. Dort, wo sie meinem akustischen Empfinden nach hätten sein müssen, waren keine Vögel vorhanden. Verrückt! Der merkwürdig gestörte Gesang drang aus der Leere zwischen den Hausfassaden. Ich erinnerte mich: genau so einen Gesang fabrizierten die elektronischen Vögel, die Guerilla-Stadtverbesserer vor einem Jahr in Köln ausgesetzt hatten. Diese E-Birds bestanden aus umgelöteten Alarmanlagen, die bei Luftzug auf Vogelgezwitscher verfielen. Sie mußten sich inzwischen nach Osten ausgebreitet haben. Nun hielten sie sich als unauffällige Klemmteile an den Oberleitungen versteckt und hatten den Luftraum der İstiklal besetzt. Als sie merkten, daß ich ihrer Tarnung auf die Schliche gekommen war, verstummten sie. Mehr als das, sie webten direkt über mir eine Leere aus purer Stille – einzigartig und wunderschön, deutlich wahrnehmbar und zugleich völlig unerreichbar. Ich blickte mich um und sah, wie einige Leute inzwischen meinen Himmelsblick kopierten. Einem von ihnen prangte eine große Möwe auf dem T-Shirt.

Godzilla und das Museum der Unschuld

Der Tag Ende April 2012, an dem Orhan Pamuk sein „Museum der Unschuld“ (Masumiyet Müzesi) der internationalen Presse vorstellte, war wundersamerweise zugleich der Tag, an dem ich plötzlich und völlig unvermittelt Türkisch verstand. Zum ersten Mal bemerkte ich diese neue Errungenschaft auf dem Weg nach Cihangir, als ich aus einem ärmlichen Hauseingang eine schwache Frauenstimme auf die Straße dringen hörte: sie hätte da eine Bitte, sie sei nun 90 Jahre alt und könne sich kaum mehr bücken, rauche aber so gerne, und nun sei ihr das Feuerzeug entglitten, ob ich ihr nicht…? Die Frau hatte nur noch zwei Zähne im Mund und strahlte eine staubflusige Herzenswärme aus. Als sie ihr Feuerzeug wieder in Händen hielt, dimmten Glücksschimmer über ihr gegerbtes Gesicht.

Zur Pressekonferenz war ich nicht geladen, hatte aber einen Tip erhalten. Also verkleidete ich mich als Journalist, schmuggelte mich ein und tat so, als ob ich dazugehörte. Orhan Pamuk saß hinter einem mit Mikrofonen beladenen Holztisch etwa hundert enggedrängten Journalisten (oder als Journalisten Verkleideten) gegenüber. Er trug einen elegant-legeren Anzug, in dem er wie ein Nobelpreisträger steckte, und sprach auf Englisch über die Entstehensgeschichte seines Museums. Meinetwegen hätte er auch auf Türkisch referieren können, da ich die Sprache seit etwa 20 Minuten blendend verstand. Pamuk erzählte, daß das „Museum der Unschuld“, das seinen gleichnamigen Roman nun sozusagen begehbar macht, von Anfang an parallel zum Roman geplant war, aber auch völlig ohne das Buch funktionieren solle, als einziges Museum des Istanbuler Alltags, als Zeit-Raum-Konverter, als Katalysator für Erinnerungen wie sie mit dem Leben in Cihangir in den vergangenen Jahrzehnten verbunden seien oder durch den Museumsbesuch entstehen könnten.

Pamuk sprach klar, in freier Rede, souverän und mit Gewicht. Ähnlich wie in seiner Biografie „Istanbul“ (dem einzigen Buch, das ich bisher von ihm gelesen habe) drückte er sich auch mündlich völlig präzise, vielleicht schon zu präzise, jedenfalls mit dem Hang, sein Sujet einen Tick zu überlängen aus. Nach einer Dreiviertelstunde bemerkte er, daß er nun genug erklärt habe und eröffnete die Fragerunde. Was Journalisten doch bisweilen für Fragen stellen, nachdem sie soeben einer umfassenden Erklärung gelauscht haben!* Pamuk antwortete geduldig, nannte einige nicht sonderlich kluge Fragen „allgemein beliebteste Fragen“, alberte ein wenig herum, indem er seine Stimme comicartig verstellte oder antwortete mit leiser Ironie, als er auf eine „beliebte“ Frage erklärte, im Roman käme ein roter Apfel vor, der im Museum zu sehende Apfel sei jedoch, obgleich ebenfalls rot, nicht derselbe Apfel aus dem Roman. Der Schriftsteller äußerte ein paar gescheite Gemeinplätze, die auf keinerlei Widerstand stießen, hatte die Journalisten rhetorisch völlig in der Tasche und bestimmte den Zeitplan. Ein Nobelpreisträgerauftritt wie aus dem Bilderbuch.

Weiter gings in die Museumsräume. So neu im „Museum der Unschuld“ einen Tag vor der Publikumseröffnung alles war, wirkten doch die meisten Exponate und ihre Präsentation ausgesprochen nostalgisch. Pamuk hatte erwähnt, daß er insbesondere die kleinen Museen liebe. Mir geht es ähnlich. An solchen kleinen Museen hat er sich orientiert und ein liebenswertes, schlau konzipiertes Gerümpelkammer-Schmuckstückchen von edel gearbeiteter Schlichtheit auf den Weg gebracht, über dessen Wert ich mir jedoch unschlüssig bin. Letztlich läßt sich das Geschaute der Romanlektüre doch nicht recht entkoppeln, denn der Roman schwingt bei der Betrachtung immer mit – gerade auch für denjenigen, der ihn nicht gelesen hat. Vielleicht ist ein gutes Buch bereits Museum genug. Wie weit trägt die einer bestimmten Zeitspanne zugehörige Nostalgie? Wohl exakt so weit, als diese Zeit etwas wirklich Besonderes vorstellt, das sich gegen bereits vorhandene oder neue, nachwachsende Nostalgieschichten zu behaupten vermag. Eine solche Besonderheit konnte ich, so anrührend ich den vorgefundenen vitrinierten Alltag teilweise fand, zwischen all dem Pressevertretergehüpfe des Präsentationstages im Zusammenspiel der Exponate nicht ausmachen.

Nach dem Besuch von Pamuks weinrotem Museum in der hübschen Çukurcuma Cd. traf ich auf Godzilla. Er grüßte freundlich und erzählte mir lausbübisch lachend, wie er in der Gasse als Monster die kleinen Kinder erschrecke, die dann schreiend vor ihm davonliefen. Dazu stampfte er vor dem “Museum der Unschuld” herum und ruderte wild mit den Armen. Godzilla war eines dieser Freundchen, welche gerne mit Ausländern reden, ein sympathischer Rentner in diesem Fall, mit einer Godzilla-Schirmkappe. Ein paar Grundschüler kamen die Straße runter und frotzelten den Mann. Die Straße, meinte Godzilla, sei wegen des Museums komplett neu gemacht worden. Nun wurde sie von einem schweren schwarzen Mercedes mit wichtigem Kennzeichen blockiert. Ich schaute mir die Straße genauer an. Einiges an idyllischem Verfall, Pamuks Museum war so weinrot gestrichen in der hellen, grauen Umgebung ein sehr auffälliger Farbfleck. Wie wäre es, ging mir durch den Kopf, um die Gegend noch weiter aufzupeppen, direkt gegenüber das „Museum der Schuld“ einzurichten? Giftgrün müßte es angemalt, besser: angesprayt werden; das Buch dazu ließe sich später schreiben – und als Eingangsexponat stünde schon mal fest: ein nuklear leuchtender Granny Smith.

* Und was sie alles filmen! Ein zwei Tage später war ich in der „Kulturzeit“ auf 3sat als Medienvertreter zu bestaunen.

Yön Radyo

Wenn ich auf meiner Terrasse in den von Mauern begrenzten Himmelsausschnitt und den Möwen nachschaue, die um den nächtlichen Galataturm kreuzen wie Insekten um eine Laterne, wobei die bisweilen aufkreischenden Vögel vom Stadtlicht orangehell beleuchtet werden, was sie kontrastreich gegen den tiefblauen Nachthimmel abhebt und sie ziemlich einzigartig macht – wo auf der Welt gäbe es sonst orangefarbene Möwen? – dann lausche ich gerne im Hintergrund den Klängen von Yön Radyo. Diesen (in meiner Wohnung über Antenne nur leicht verrauscht zu empfangenden) Sender mit seinem orientalisierten Waterloo Sunset-Jingle habe ich am Tag meiner winterlichen Ankunft entdeckt und seither keine Veranlassung gehabt, ihn zu wechseln.

Von der ersten Minute an fesselten mich die Arabeske-Popsongs, welche die meiste Zeit des Tages laufen: ein ewiges Gedudel aus tausendundeiner musikalischen Feinheit und einer schwebenden, oft traurigen Stimmung, die mir das Leben erträglicher gestalten hilft, weil ich bemerke, daß ich, gönnte ich meiner lyrischen Gastarbeitereinsamkeit ein ähnliches Pathos, wohl unverzüglich implodieren würde. Also versuche ich mich zu orientalischer Radiomusik an würdevollen Global Heimat-Punk-Versen mit temperierten Gefühlsspritzern. Gleichzeitig egalisiert der Sender das nervtötende Gegacker meiner jungen Nachbarin und ihrer amüsierwütigen Gäste, welches Abend für Abend in Intervallen meine Terrasse durch die Oberlichter bedrängt. Desweiteren hilft Yön Radyo beim Chinesisch lernen. Wer schon Türkisch kann, kann sein Spektrum mindestens aufs Küchenchinesische erweitern. Ich kann eigentlich kein Türkisch, aber da ich z.B. weiß, was Kreditkarte auf Türkisch heißt, vermag ich Kreditkarte nun auch auf Chinesisch zu sagen.

Vor dem Chinesisch-Crashkurs werden Kochrezepte gesendet, die sich kein Mensch merken kann. Zunächst werden grammgenau die benötigten Zutaten aufgezählt: die türkische Küche kennt Unmengen davon. Danach wird in mindestens 15 Schritten die Zubereitung erklärt. Wer sich bei Schritt 2 noch an sämtliche Zutaten erinnert… – ich würde nicht zögern, sein Erinnerungsvermögen genialisch zu nennen. Das ganze Rezept wird von einer Sprecherin in maximal einer Minute durchgenudelt. Besteht die türkische Radiohörerschaft zu erheblichen Teilen aus Gedächtniskünstlern, rasanten Schnellköchen und ausländischen Dichtern?

Zwischenrein laufen Reklame und Weltnachrichten. Ich lausche dem angenehmen Klang der türkischen Sprache und wünsche mir in einem Anfall nationaler Selbstzerfleischung, auch mein Geburtsdeutsch klänge im Grundton bereits ähnlich geschmeidig und weniger bellend. Während ich den Nachrichten ganz so wie zuhause in Deutschland zuhöre, bemerke ich, daß ich ihren Wortlaut nicht verstehe, allenfalls einzelne Partikeln auffange, daß dieses Nichtverstehen aber garnichts zu bedeuten hat, weil die Nachrichten des gesamten Erdenrunds sowieso fast immer nur dasselbe beinhalten – und für mich so gut wie niemals etwas von persönlichem Belang.

Dann folgt wieder, was ich liebe: Arabeske-Pop mit gedehnten, vibrierenden Silben, ein unaufhörliches Dozieren, daß (so vermute ich zumindest) von Liebe und Schmerz handelt, dem Druck des Lebens, den kleinen Siegen und Niederlagen, bevor das Spiel von vorne beginnt. Diese Musik hat es mir vom ersten Takt angetan; vermischt mit dem leiernden Ruf des Muezzins, der aus einigen von Allahs unergründlichen Himmelsrichtungen auf meine Terrasse weht, wird sie zur Fähre in eine zweite Wirklichkeit. Dann fühle ich mich plötzlich auf einem mit bunten Zuckerworten beworbenen Luftpolster, auf dem ich mich in traumähnliche Gegenden entferne. So drehe ich eine Runde über den Bosporus, umfliege die beleuchteten Türme der alten Janitscharen-Kaserne und zupfe im Vorbeigleiten den orangefarbenen Möwen neckisch an den Schwänzen. So kann ich ganze Abende verbringen. Dichter sind in bestimmten Stimmungslagen zu wenig mehr fähig, als sich sinnlos in den Untiefen des Abends zu verlieren. Wenn es gut läuft und sie wieder herausfinden, geben sie nachher der Welt in seltsamen Geschichten davon Rechenschaft.

Eines Nachts dachte ich, nachdem ich mehrere Gläser Whiskey getrunken hatte, ich hätte aus Versehen den Sender gewechselt. Ich habe das gleich überprüft. Der Senderbalken stand wie immer auf 96,6. Doch statt Arabeske-Pop lief auf Yön Radyo nun plötzlich mitteleuropäische Klassik – zu meinem allerbesten Erstaunen im übergangslosen Wechsel mit zombieesk geröcheltem Death Metal der grabestiefsten und teuflischsten Sorte. Die Türken, dachte ich da, und verfiel ansatzlos in whiskeysches Verallgemeinern, also, meine Herrn, die Türken: so wenig ich sie kenne, sind sie doch immer für eine Überraschung gut!

Fähre fahren!

Aus Gründen, die in mythische Bereiche der regionalen Verwaltungsgeschichte hinabgreifen, wird jeder Kölner Dichter (auch die Dichterinnen) im Laufe seines Lebens einmal für einige Monate nach Istanbul entsandt. Die Kölner Dichterschaft entwickelte fern der Heimat alsbald die Tradition eines praktischen, ortsspezifischen Hobbys, wofür sie in Lyrikzirkeln berühmt geworden ist und auch gelegentlich verspottet wird: das Fährefahren. Die Vorliebe für diese Beschäftigung wiederum, die auch zu meinen liebsten in Istanbul gehört, hat ganz realistische Gründe.

Zunächst einmal ist das Benutzen der Istanbuler Fähren sehr preisgünstig. Eine Fahrt kostet meist deutlich weniger als ein Kurzstreckenticket für eine beliebige deutsche Stadtbahn. Die Dauer der Fahrt auf einem der üblichen Rundkurse bestimmt der Passagier. Theoretisch könnte er nach Queren des Drehkreuzes den gesamten Tag an Bord verbringen und ein ums andere Mal zwischen Europa und Asien hin- und herpendeln oder das Goldene Horn entlangzockeln. Dann sind die Fähren sehr angenehme Verkehrsmittel. Sie bieten nicht nur dem dichtenden Passagier die Möglichkeit, sich selbst und seine Gedanken auszustrecken. Im Winter wird das Unterdeck geheizt und der Ausblick ist zu jeder Jahreszeit deutlich abwechslungsreicher als die nachbarliche Mauer seiner nicht ganz wasserdichten Istanbuler Kemenate.

Fährfahrten ermöglichen den Blick auf viele Sehenswürdigkeiten und einige seltsame Fänomene der Metropole. So habe ich erst beim Fährefahren bemerkt, daß der markante Galataturm im Stadtbild umso stärker anwächst, je weiter sich der Betrachter von ihm entfernt. Immer halte ich auf dem Wasser nach Delfinen Ausschau. Stattdessen bekomme ich Möwen, Kormorane und Schwalben zu Gesicht. Sie jagen über die Wasserhaut, die unablässig ihre Farben und Strukturen wechselt. So unrein diese Wasserhaut tatsächlich ist, so sehr vermag sie morgenländisch-türkis und -safirn zu blenden und zu glitzern oder in ein maischiges Grau wie von feuchtem Beton zu kippen, als stünde das endgültige Erstarren der Welt kurz bevor.

In den halbverspiegelten Scheiben der Fähren treffen sich auf der Strecke von Üsküdar nach Karaköy beide Uferseiten. Den Wohnhäusern auf den Hügeln von Cihangir werden jene von Üsküdar per transparenter Spiegelung überblendet; der Wellengang macht aus dem im Fährtempo sich entwickelnden Bild ein echtes „Häusermeer“: schwappend, erregend, lichttrunken, in den Farben der Fische und mit jähen Untiefen. Istanbuls stets mutierender architektonischer Organismus aus Verfall und Neubau, welchem der Verfall bereits vom Rohbau an spürbar innewohnt, bekommt auf den Scheiben der Fähren zusätzlich zu seiner zeitlich-realen auch eine räumlich-virtuelle Dimension: das Wabern der Stadt als visuelles Manifest.

In meinen nächtlichen Träumen geht das Geschwanke weiter, verkündet von einem knapp vorm Tilt stehenden Bewegungsmelder. Abermillionen Gestalten kriechen mühselig aus Abermillionen überlagert-zerfließenden Hausfenstern heraus „in ein anderes Blau“, um in den schwankenden Straßen, die sich um mein Gesichtsfeld winden, ihren Tätigkeiten als Handwerker, Händler, Bettler nachzugehen, melancholisch dreinzuschauen, Unverständliches in die Welt hinauszurufen, die Nichtigkeiten des Daseins zu loben und zu beklagen, und blutroten Granatapfelsaft zu nippen oder wie verlöschendes Neon schimmernden Anisschnaps in sich hineinzukippen, bis ihre Gesichter hinter hervortretenden Augen zu Glas werden und zerbrechen. Immer stehe ich außen vor. Ich spreche ihre Sprache nicht, kann nur begrenzt mit ihnen kommunizieren und das, was sie ausdrücken, hinnehmen. Ich glaube, ich sehe allmählich, obgleich mir diese Stimmung wenig liegt, genauso melancholisch aus wie sie.

Foto: Dose

Eigentlich sind die meisten Fährfahrten nicht sonderlich dramatisch. Solange der Kapitän sich nicht mit anderen Booten oder gar einem Oceanliner anlegt, verlaufen die Passagen sogar ausgesprochen entspannt. Kellner servieren Tee, frisch gepreßten Orangensaft und Salep, ein Heißgetränk, das aus zerstoßenen Knabenkrautwurzeln gebraut wird. Das Fährboot durchtuckert Istanbuls Aorta, deren Schlag nur als Rauschen vernehmbar ist, als Bootsmotor, Windzug und reifengedämpfter Aufprall am Anleger, einem Übergangsort, an dem die Gerüche des Wassers, der Menschen, von Abgasen, Katzenpisse und frischem Fisch sich mengen. Ich lasse mir den Wind um die Nase wehen und notiere, was mich befremdet. Auf einmal sehe ich doch die Delfine, auf die ich so lange gewartet habe. Yaşar Kemal schrieb ihnen in „Zorn des Meeres“ zu, daß ihr Anblick Glück brächte. Was immer dieses „Glück“ bedeuten soll, für einen Glücksmoment in meinem Leben darf nun auch ich die Delfine verantwortlich machen.

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