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Fähre fahren!

Written by My Invisible Eye on . Posted in Explore, My Invisible Eye

Aus Gründen, die in mythische Bereiche der regionalen Verwaltungsgeschichte hinabgreifen, wird jeder Kölner Dichter (auch die Dichterinnen) im Laufe seines Lebens einmal für einige Monate nach Istanbul entsandt. Die Kölner Dichterschaft entwickelte fern der Heimat alsbald die Tradition eines praktischen, ortsspezifischen Hobbys, wofür sie in Lyrikzirkeln berühmt geworden ist und auch gelegentlich verspottet wird: das Fährefahren. Die Vorliebe für diese Beschäftigung wiederum, die auch zu meinen liebsten in Istanbul gehört, hat ganz realistische Gründe.

Zunächst einmal ist das Benutzen der Istanbuler Fähren sehr preisgünstig. Eine Fahrt kostet meist deutlich weniger als ein Kurzstreckenticket für eine beliebige deutsche Stadtbahn. Die Dauer der Fahrt auf einem der üblichen Rundkurse bestimmt der Passagier. Theoretisch könnte er nach Queren des Drehkreuzes den gesamten Tag an Bord verbringen und ein ums andere Mal zwischen Europa und Asien hin- und herpendeln oder das Goldene Horn entlangzockeln. Dann sind die Fähren sehr angenehme Verkehrsmittel. Sie bieten nicht nur dem dichtenden Passagier die Möglichkeit, sich selbst und seine Gedanken auszustrecken. Im Winter wird das Unterdeck geheizt und der Ausblick ist zu jeder Jahreszeit deutlich abwechslungsreicher als die nachbarliche Mauer seiner nicht ganz wasserdichten Istanbuler Kemenate.

Fährfahrten ermöglichen den Blick auf viele Sehenswürdigkeiten und einige seltsame Fänomene der Metropole. So habe ich erst beim Fährefahren bemerkt, daß der markante Galataturm im Stadtbild umso stärker anwächst, je weiter sich der Betrachter von ihm entfernt. Immer halte ich auf dem Wasser nach Delfinen Ausschau. Stattdessen bekomme ich Möwen, Kormorane und Schwalben zu Gesicht. Sie jagen über die Wasserhaut, die unablässig ihre Farben und Strukturen wechselt. So unrein diese Wasserhaut tatsächlich ist, so sehr vermag sie morgenländisch-türkis und -safirn zu blenden und zu glitzern oder in ein maischiges Grau wie von feuchtem Beton zu kippen, als stünde das endgültige Erstarren der Welt kurz bevor.

In den halbverspiegelten Scheiben der Fähren treffen sich auf der Strecke von Üsküdar nach Karaköy beide Uferseiten. Den Wohnhäusern auf den Hügeln von Cihangir werden jene von Üsküdar per transparenter Spiegelung überblendet; der Wellengang macht aus dem im Fährtempo sich entwickelnden Bild ein echtes „Häusermeer“: schwappend, erregend, lichttrunken, in den Farben der Fische und mit jähen Untiefen. Istanbuls stets mutierender architektonischer Organismus aus Verfall und Neubau, welchem der Verfall bereits vom Rohbau an spürbar innewohnt, bekommt auf den Scheiben der Fähren zusätzlich zu seiner zeitlich-realen auch eine räumlich-virtuelle Dimension: das Wabern der Stadt als visuelles Manifest.

In meinen nächtlichen Träumen geht das Geschwanke weiter, verkündet von einem knapp vorm Tilt stehenden Bewegungsmelder. Abermillionen Gestalten kriechen mühselig aus Abermillionen überlagert-zerfließenden Hausfenstern heraus „in ein anderes Blau“, um in den schwankenden Straßen, die sich um mein Gesichtsfeld winden, ihren Tätigkeiten als Handwerker, Händler, Bettler nachzugehen, melancholisch dreinzuschauen, Unverständliches in die Welt hinauszurufen, die Nichtigkeiten des Daseins zu loben und zu beklagen, und blutroten Granatapfelsaft zu nippen oder wie verlöschendes Neon schimmernden Anisschnaps in sich hineinzukippen, bis ihre Gesichter hinter hervortretenden Augen zu Glas werden und zerbrechen. Immer stehe ich außen vor. Ich spreche ihre Sprache nicht, kann nur begrenzt mit ihnen kommunizieren und das, was sie ausdrücken, hinnehmen. Ich glaube, ich sehe allmählich, obgleich mir diese Stimmung wenig liegt, genauso melancholisch aus wie sie.

Foto: Dose

Eigentlich sind die meisten Fährfahrten nicht sonderlich dramatisch. Solange der Kapitän sich nicht mit anderen Booten oder gar einem Oceanliner anlegt, verlaufen die Passagen sogar ausgesprochen entspannt. Kellner servieren Tee, frisch gepreßten Orangensaft und Salep, ein Heißgetränk, das aus zerstoßenen Knabenkrautwurzeln gebraut wird. Das Fährboot durchtuckert Istanbuls Aorta, deren Schlag nur als Rauschen vernehmbar ist, als Bootsmotor, Windzug und reifengedämpfter Aufprall am Anleger, einem Übergangsort, an dem die Gerüche des Wassers, der Menschen, von Abgasen, Katzenpisse und frischem Fisch sich mengen. Ich lasse mir den Wind um die Nase wehen und notiere, was mich befremdet. Auf einmal sehe ich doch die Delfine, auf die ich so lange gewartet habe. Yaşar Kemal schrieb ihnen in „Zorn des Meeres“ zu, daß ihr Anblick Glück brächte. Was immer dieses „Glück“ bedeuten soll, für einen Glücksmoment in meinem Leben darf nun auch ich die Delfine verantwortlich machen.

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