Yön Radyo
Wenn ich auf meiner Terrasse in den von Mauern begrenzten Himmelsausschnitt und den Möwen nachschaue, die um den nächtlichen Galataturm kreuzen wie Insekten um eine Laterne, wobei die bisweilen aufkreischenden Vögel vom Stadtlicht orangehell beleuchtet werden, was sie kontrastreich gegen den tiefblauen Nachthimmel abhebt und sie ziemlich einzigartig macht – wo auf der Welt gäbe es sonst orangefarbene Möwen? – dann lausche ich gerne im Hintergrund den Klängen von Yön Radyo. Diesen (in meiner Wohnung über Antenne nur leicht verrauscht zu empfangenden) Sender mit seinem orientalisierten Waterloo Sunset-Jingle habe ich am Tag meiner winterlichen Ankunft entdeckt und seither keine Veranlassung gehabt, ihn zu wechseln.
Von der ersten Minute an fesselten mich die Arabeske-Popsongs, welche die meiste Zeit des Tages laufen: ein ewiges Gedudel aus tausendundeiner musikalischen Feinheit und einer schwebenden, oft traurigen Stimmung, die mir das Leben erträglicher gestalten hilft, weil ich bemerke, daß ich, gönnte ich meiner lyrischen Gastarbeitereinsamkeit ein ähnliches Pathos, wohl unverzüglich implodieren würde. Also versuche ich mich zu orientalischer Radiomusik an würdevollen Global Heimat-Punk-Versen mit temperierten Gefühlsspritzern. Gleichzeitig egalisiert der Sender das nervtötende Gegacker meiner jungen Nachbarin und ihrer amüsierwütigen Gäste, welches Abend für Abend in Intervallen meine Terrasse durch die Oberlichter bedrängt. Desweiteren hilft Yön Radyo beim Chinesisch lernen. Wer schon Türkisch kann, kann sein Spektrum mindestens aufs Küchenchinesische erweitern. Ich kann eigentlich kein Türkisch, aber da ich z.B. weiß, was Kreditkarte auf Türkisch heißt, vermag ich Kreditkarte nun auch auf Chinesisch zu sagen.
Vor dem Chinesisch-Crashkurs werden Kochrezepte gesendet, die sich kein Mensch merken kann. Zunächst werden grammgenau die benötigten Zutaten aufgezählt: die türkische Küche kennt Unmengen davon. Danach wird in mindestens 15 Schritten die Zubereitung erklärt. Wer sich bei Schritt 2 noch an sämtliche Zutaten erinnert… – ich würde nicht zögern, sein Erinnerungsvermögen genialisch zu nennen. Das ganze Rezept wird von einer Sprecherin in maximal einer Minute durchgenudelt. Besteht die türkische Radiohörerschaft zu erheblichen Teilen aus Gedächtniskünstlern, rasanten Schnellköchen und ausländischen Dichtern?
Zwischenrein laufen Reklame und Weltnachrichten. Ich lausche dem angenehmen Klang der türkischen Sprache und wünsche mir in einem Anfall nationaler Selbstzerfleischung, auch mein Geburtsdeutsch klänge im Grundton bereits ähnlich geschmeidig und weniger bellend. Während ich den Nachrichten ganz so wie zuhause in Deutschland zuhöre, bemerke ich, daß ich ihren Wortlaut nicht verstehe, allenfalls einzelne Partikeln auffange, daß dieses Nichtverstehen aber garnichts zu bedeuten hat, weil die Nachrichten des gesamten Erdenrunds sowieso fast immer nur dasselbe beinhalten – und für mich so gut wie niemals etwas von persönlichem Belang.
Dann folgt wieder, was ich liebe: Arabeske-Pop mit gedehnten, vibrierenden Silben, ein unaufhörliches Dozieren, daß (so vermute ich zumindest) von Liebe und Schmerz handelt, dem Druck des Lebens, den kleinen Siegen und Niederlagen, bevor das Spiel von vorne beginnt. Diese Musik hat es mir vom ersten Takt angetan; vermischt mit dem leiernden Ruf des Muezzins, der aus einigen von Allahs unergründlichen Himmelsrichtungen auf meine Terrasse weht, wird sie zur Fähre in eine zweite Wirklichkeit. Dann fühle ich mich plötzlich auf einem mit bunten Zuckerworten beworbenen Luftpolster, auf dem ich mich in traumähnliche Gegenden entferne. So drehe ich eine Runde über den Bosporus, umfliege die beleuchteten Türme der alten Janitscharen-Kaserne und zupfe im Vorbeigleiten den orangefarbenen Möwen neckisch an den Schwänzen. So kann ich ganze Abende verbringen. Dichter sind in bestimmten Stimmungslagen zu wenig mehr fähig, als sich sinnlos in den Untiefen des Abends zu verlieren. Wenn es gut läuft und sie wieder herausfinden, geben sie nachher der Welt in seltsamen Geschichten davon Rechenschaft.
Eines Nachts dachte ich, nachdem ich mehrere Gläser Whiskey getrunken hatte, ich hätte aus Versehen den Sender gewechselt. Ich habe das gleich überprüft. Der Senderbalken stand wie immer auf 96,6. Doch statt Arabeske-Pop lief auf Yön Radyo nun plötzlich mitteleuropäische Klassik – zu meinem allerbesten Erstaunen im übergangslosen Wechsel mit zombieesk geröcheltem Death Metal der grabestiefsten und teuflischsten Sorte. Die Türken, dachte ich da, und verfiel ansatzlos in whiskeysches Verallgemeinern, also, meine Herrn, die Türken: so wenig ich sie kenne, sind sie doch immer für eine Überraschung gut!
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