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Botox in Tarlabaşı

Zafer Şenocak schreibt in „Der Mann im Unterhemd“ sinngemäß, daß der Istanbuler Obst- und Gemüsehändler sich für seine verkorkste Sexualität an der Gesellschaft räche, indem er lauter vergammelte Ware anbiete. Wie immer Şenocak zu dieser Aussage fand: ich kann sie weder untermauern, noch dementieren. Tatsächlich findet sich auf Istanbuls Straßen minderwertige und verdorbene Ware alles andere als selten.

Auf dem Sonntagsmarkt von Tarlabaşı wirkt der weit überwiegende Teil des Angebots eher anständig und frisch. Der Markt kommt langsam in die Gänge, um 11 Uhr morgens sind noch längst nicht alle Stände aufgebaut, geschweige denn bepreist. Vor Sonne, Regen und Schnee schützt eine abenteuerliche Zeltdachkonstruktion. Heute prallte ich beinahe gegen eine ihrer improvisierten Stützstangen, worauf mir ein Händler lachend zu verstehen gab, daß ich im Erfolgsfall seinen Stand abgeräumt hätte.

Das Marktangebot ist knallbunt und preisgünstig. Zitrusfrüchte, Auberginen, Zucchini, Tomaten, Garnelen, Blaubarsche, Thunfischscheiben, rosige Rochenflügel, Curries, Knoblauch, Sumach und Lokum, sauer Eingelegtes, Fleisch, Nüsse, Ölweidenfrüchte, Maulbeeren, grüne Frühjahrspflaumen, just gefalteter Yufkateig, in Plastikeimern dümpeln frisch geschlachtete Artischockenherzen in Lake, die Männer hinter den Käse- und Olivenständen füttern blonde Europäerinnen mit Probierhäppchen satt, nebendran besabbert ein leicht idiotischer Händler seine Erdbeeren, daneben wieder ein freundlicher Alter, der außer seinem Lächeln kaum etwas anzubieten hat und von diesem Wenigen auch noch freimütig verschenkt.

Die Händler sind allesamt Männer, darunter einige Sänger und Glossolalisten und der ganzen Szenerie fehlt nur der bürgerliche Autor, der all das auf die Romantische beschreibt: vor Taschendiebstahl wird gewarnt! Bettler exponieren ihre eklatanten Körperschäden und nicht wenige der Händler sehen dreckig, krank und gebeutelt aus. Als Angehöriger des lyrischen Prekariats fühle ich mich auf diesem Markt wohler als auf der geleckten İstiklal.

Tarlabaşı gilt als Armenviertel, ehemals (bis zu den Vertreibungen) von Griechen bewohnt, dann von Roma und Kurden, heute Magnet für afrikanische Zuwanderer. Abseits des Markts dünsten Tarlabaşıs Sokaks und Schluchten nebst Ärmlichkeit auch uralte Hohlweggefahren aus. An Wohnungen, Läden und Gestalten finden sich mannigfache Wracks. Die Straßenhunde gucken linkisch aus der Wäsche. Kaum bin ich zehn Meter auf dieses Gelände vorgedrungen, komme ich mir vor, als würde ich gescannt: das Viertel registriert, daß ich da bin. Niemanden kümmerts, doch jeder weiß bescheid. Ein Friseurlädchen, das eher einer öffentlichen Verhörzelle ähnelt, bietet Botox an, dieses Wurstgift für wohlhabende Avantgarde-Ästheten, mit dem sich Gesichter mimikfrei spritzen lassen. Ob Botox in Tarlabaşı stark nachgefragt ist?

Ich schlendre über die Tarlabaşı Caddesi, jene wuchtige Autotrasse, welche das Viertel im Osten begrenzt, eine Schneise, die aussieht, als wäre sie mit Mittelstreckenraketen aus dem verklumpten Stadtgefüge freigeschossen worden. Ich blicke auf den Straßenverkehr, zugleich auf den löchrigen Fußweg und bröckelnde Hausfassaden. Ein Auge klebt immer am Himmel, aus dem so einiges herunterfallen kann. Plötzlich signalisiert mir eine Dame ihr Einverständnis – dabei habe ich sie garnichts gefragt. Sie ist einfach im Blickfeld zu meiner Rechten aufgetaucht, weil die Häuser dort von jetzt auf sofort nur noch aus Löchern bestanden. Verdutzt schaue ich in ihre Richtung, sie nickt erneut. Bewegt sich in einiger Entfernung parallel zu mir durch Ruinen und Schutt, trägt Sonnenbrille über straffer Bronzehaut. Botox! schießts mir durch den Sinn. Ihr Körper wirkt weiblich, aber nicht ganz. Wenn es sich um drei Uhr nachmittags für eine schnelle Nummer in dieses mitten in der Stadt gelegene Ruinenfeld verziehen läßt, dürfte die Hochrechnung für die Nacht die vollkommene Planierung des Geländes beinhalten.

Alte, moslemisch gekleidete, bärtige Männer sitzen am Straßenrand und atmen Bleidämpfe zu ihren Zigaretten. Schuhputzer mit blitzblanken, aber löchrigen Tretern. Teeistische Tagediebe und zänkische Vetteln. Längst schien mir, hätte die Vokabel „Vettel“ ausgedient, doch Istanbul hat noch massig solcher Gestalten auf Vorrat, speziell in Tarlabaşı, nebst Zwergen, Bohnengerichten und Transen. Ich gehe dort hindurch. Die Leute bleiben. Um sich selbst kreiselnde Schluchtenhocker. Es geht ihnen sichtbar nicht gut. Und genau dieser Umstand, stelle ich mit Erschrecken fest, wertet unter der Hand mein eigenes Befinden auf.

İstiklal Caddesi

Ein im Wortsinn mitreißendes Fänomen Istanbuls stellen die stromernden Fußgängermassen auf der İstiklal Caddesi vor: U-Bahnen, Seitenstraßen, Passagen, Shops, Malls, Konsulate, Schulen, Tourismusratgeber und die Arbeitslosigkeit füttern der Flaniermeile ununterbrochen Frischfleisch zu. Auf dem Pflaster schliddert es in einen Film, organisiert sich zu sardinösem Geschwärme, zuckt, flockt, stockt, zieht, flieht und läßt sich, beim Versuch sich selbst zu imitieren, punktuell zu Euforie verleiten. Tanz, Gesang und Schreie. Malmende Müllpressen und historisches Tramgebimmel. Leben im Permagemenge. Heute ist immer. Heute wird demonstriert, gegendemonstriert, gekauft, geklaut, sich umgeschaut, wird Bein gezeigt und Macht. Arglos zielen die Maschinenpistolenmündungen der strammgebügelten Staatsrepräsentanz auf die Hüften der Bürgerschaft. Die ist nur ein Chamäleon in blütenweiß, ukrainischblond und tschadorschwarz.

Verwunderlich, daß dieser gepflasterte Bosporus nicht irgendwann komplett verstopft, bis die Menschen weder ein noch aus können und hysterisch an sich selbst ersaufen, ob knarretragender Rempelbruder, beliebter Stargast, vergleichende Sprachwissenschaftlerin oder überkommener Flaschengeist. Weil die İstiklal direkt auf meinem Weg nach da und dort liegt, tauche ich alltäglich in diese Flucht mit ihren Seiten-, Unter-, Neben- und Hauptströmungen. Dafür trage ich lediglich eine Schutzbrille mit mir, und Sauerstoff für eine halbe Stunde. Meist gilt: schnell da rein und schnell wieder raus! Erste Bewegungen im All. Dann und wann aber verlangsame ich meinen Gang bei alten stoppelbärtigen Männern, die in Halbtrance meisterhaft magische Weisen fiedeln, dieweil ihnen ein Kind als lebender Mikrofonständer dient. Und mein deutsches Herz verwandelt sich in eine Blutlache.

Das arme Herz wird schnell wieder schockgefroren. Von osmanisierten Speiseeisjongleuren, deren Glockengedengel. Alarm! Überfall! Die Schaufenster haben sich zusammengerottet und greifen an: bis zur völligen Nacktheit enthüllte Pistazien rammen mastixgehärtete Granatapfelpasten, vor Farbenlast quietschende Lokumeinheiten, anrobbende Süßwarenschwadronen, nussige Rekruten im Schlamm des großen Sirupmanövers, in den Seitenstraßen kommandiert General Rakı die berühmten Freischärler des tscherkessischen Huhns, die Seifenblasenpistolenverkäufer mit den Cristiano Ronaldo-Frisuren verteidigen ihre Stellungen, schießen mit extrafrequenten Hirnwäschen, über das Pflaster wehen wie tibetische Gebetsfahnen im Wind die Rauchzeichen der Maronimanen.

Die İstiklal ist mit Sicherheit eine der schlimmstvorstellbaren Martern für Soziofobe der ganzen Welt. Sie bietet aber auch vedutentaugliche Idyllen. Ein junge Frau schläft im Sitzen, gelehnt an den Eingang zur Metrostation Şişhane. In ihrem weit gen Himmel aufgesperrten Mund liegen einige Geldmünzen. Direkt daneben wippen fünf Panflöten-Indios ihren Folkloretakt. Sie haben den obligaten Kondor einst von mächtigen Yatiris in die Tunnel ihrer Instrumente bannsprechen lassen, aus denen sie ihn seit Jahr und Tag auf sämtlichen Einkaufsmeilen der Welt wieder hervorrufen, um die Sehnsüchte der Passanten aufzuscheuchen. Warum sollten sie ausgerechnet die İstiklal verschonen? Apropos Kondor. In Istanbul habe ichs mit den Vögeln. Die Vögel, fiel mir auf, sind auch die eigentlichen Meister meines Wohnviertels. An ihrem Mit- und Gegeneinander pendelt am seidenen Faden in Istanbul mindestens ganz Beyoğlu. Die Häuser, das Meer, sogar viele Menschen in dieser wimmelnden Stadt: nichts als ein Marionettenspiel der Möwen, Schwalben, Reiher, Spatzen.

Wie meisterhaft die Vögel in Istanbul agieren, wurde mir ausgerechnet auf der İstiklal bewußt. Ich ließ mich mit den Massen Richtung Galatasaray-Platz treiben. Da nahm ich auf einmal ganz überkandidelte Vogelstimmen wahr. Aufgeregte Stimmen eines schrillen Gesangs, der knapp über meinem Schädel stattfand. Ich hielt inne und legte meinen Kopf in den Nacken. Dort, wo sie meinem akustischen Empfinden nach hätten sein müssen, waren keine Vögel vorhanden. Verrückt! Der merkwürdig gestörte Gesang drang aus der Leere zwischen den Hausfassaden. Ich erinnerte mich: genau so einen Gesang fabrizierten die elektronischen Vögel, die Guerilla-Stadtverbesserer vor einem Jahr in Köln ausgesetzt hatten. Diese E-Birds bestanden aus umgelöteten Alarmanlagen, die bei Luftzug auf Vogelgezwitscher verfielen. Sie mußten sich inzwischen nach Osten ausgebreitet haben. Nun hielten sie sich als unauffällige Klemmteile an den Oberleitungen versteckt und hatten den Luftraum der İstiklal besetzt. Als sie merkten, daß ich ihrer Tarnung auf die Schliche gekommen war, verstummten sie. Mehr als das, sie webten direkt über mir eine Leere aus purer Stille – einzigartig und wunderschön, deutlich wahrnehmbar und zugleich völlig unerreichbar. Ich blickte mich um und sah, wie einige Leute inzwischen meinen Himmelsblick kopierten. Einem von ihnen prangte eine große Möwe auf dem T-Shirt.

Interior Design as a Contemporary Art Medium

What is the connection between art and design and personal set up of the environment.

26.05. – 07/15/2012
Rezan Has Müzesi, Kadir Has Cad., Cibali, Istanbul
Opening times: daily from 09:00-18:00 clock

Organized by the Goethe Institute Istanbul in cooperation with IFA

‘SET’ by Andree Korpys/Markus Löffler. The image shows a part-reconstruction of a conspirative flat of the Rote Armee Fraktion (RAF, Red Army Faction), based on photographs by the Bundeskriminalamt (BKA, Federal Office of Criminal Investigation), it is part of the  exhibition “Come-in. Interior Design as a Contemporary Art Medium in Germany” taking place at Kadir Has University.

The exhibition “Come-in. Interior Design as a Contemporary Art Medium in Germany” investigates the connection between fine art and applied design in twenty-five artistic positions by means of individual objects, sculptures, installations, videos and – in the exhibition catalogue – inserts.
At first glance, the mobilia, objects and interiors appear to possess an “obvious” identity as “furniture”, “luminaries” or “interiors”. At second glance, however, they are too uncomfortable, colourful and eccentric, all too clearly geared to our perception or a situational communicative event. They represent ideas, projects, scenic reinterpretations of situations conditioned by certain furnishing and architectural elements. The interior spaces chosen by many of the contributing artists form links between aspects of contemporary history and their own biography and critical aesthetics.

Every institution that takes part in this touring exhibition is invited to choose and exhibit additional works from its own country for the duration of the show there. These should represent one artistic position dealing with the theme of the exhibition.

The image shows a part-reconstruction of a conspirative flat of the Rote Armee Fraktion (RAF, Red Army Faction), based on photographs by the Bundeskriminalamt (BKA, Federal Office of Criminal Investigation)

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