Auf die Frage eines Lesers, ob es in der Türkei Tauben gäbe
„Les tourterelles nichent dans les noirs feuillages, et les gypaëtes planent au-dessus de leurs pointes sombres, traçant des grands cercles sur le ciel d`azur.“ Théophile Gautier, Constantinople
Von der Türkei habe ich bisher nicht mehr gesehen als einige Ecken Istanbuls. Es gibt in Istanbul reichlich Tauben. Darunter eine Art, die deutlich kleiner ausfällt als die am Rhein beheimateten: die sogenannte Palmtaube. Palmen konnte ich in Istanbul kaum häufiger als in Köln entdecken. Palmtauben traf ich daher entweder auf dem Straßenpflaster, oder auf Dachterrassen. Ihre geringe Größe läßt sie „jung“, ihr Gefieder in Rosttönen läßt sie modisch erscheinen: von einem geschmäcklerischen Darwinismus mit der istanbultypischen Melange aus Verfall und Neubau abgestimmt – was ihnen, zumal in einem künstlich wirkenden Künstlerviertel wie Kuledibi, einen bohèmehaften Anstrich verleiht – während sie verwirrt durchs in den Gassen großzügig ausgestreute Katzentrockenfutter schreiten. Es gibt in Istanbul desweiteren Tauben in der uns Deutschen bestens vertrauten Größe, mit den bekannten Verhaltensmustern. Es handelt sich dabei um (sic!) Türkentauben einerseits, sowie Stadt- oder Straßentauben andererseits.
Bei der Neuen Moschee (Yeni Cami) in Eminönü stieß ich auf ein lockeres Szenario von Instant-Buden, die aus dem Augenwinkel so selbstgezimmert wie transportabel aussahen und von denen bis auf eine alle außer Betrieb waren. In diesem Kabuff kauerte eine runzlige, bucklige, aus Grimms Märchen entflohene Alte. Sie wies mit der Hand auf einige Teller voller Krümel, die auf ihrem Kabufftresen standen, und schaute mich erwartungsvoll an. Ich fragte mich, welche Sorte schlichten Knabberzeugs sie mir anzubieten hätte, als sie unvermittelt einen langen Stock hervorzog und damit gegen das Budendach schlug. Sie hatte nämlich gehört (oder mittels ihres unsichtbaren Auges erkannt), daß dort oben Tauben gelandet waren. Da zündete bei mir der Funke der Erkenntnis: die Dame verkauft Taubenfutter! Fertig auf Tellern portioniert! Und damit die Tauben nicht an das Futter gelangen könnten, bevor es von einem Gönner bezahlt war, mußte sie die Vögel mit ihrem Stock vertreiben. Es heißt ja, der Handels- und der moralische Trieb schlössen sich gegenseitig aus. Dieweil der Muezzin zum Gebet rief, sah ich vor der Yeni Cami, unter Ausdruck frappanter Armseligkeit, beide Triebe sich überkreuzen.
Nachdem ich die Taube einst als Wappentier der Stadtflaneure, Lyriker, Erwerbs- und Obdachlosen („graues wetter, taubengrau…“) Kölns bedichtet habe, ist dies also eines meiner eindrücklichsten Istanbulbilder bisher: die bucklige Alte, welche die Tauben vom Taubenfutter, das sie verkauft, vertreibt. Ein simples Bild, das die gesamte Verzweiflung des Daseins geballt enthält. Die Tauben dürften in etwa die zweithäufigsten Vögel Istanbuls vorstellen. Die häufigsten sind die Möwen, die entsprechend in meiner hiesigen Textproduktion vorkommen – also mindestens eine, gerne auch zwei oder mehr pro Text. Auf den Dachplanen der Fähren verzerren sie ihre Körper bei abstrusen Schattenspielen zu Störchen oder noch aberwitzigeren Fysiognomien, im Abenddunkel gleiten sie vom Stadtlicht orangehell beleuchtet unter tiefblauen Himmeln herum – scheinbar befangen in der Möglichkeit, die ganze Himmelsweite einmal so richtig ausnutzen zu sollen. Wenn sie die Fähren begleiten, erreichen ihre kopflosen Flugformationen psychedelische Momente, die beim Betrachter zu intensivem Schwindel führen. Auf den Fähren wird zu diesem Zweck Möwenfutter verkauft und mancher Fischhändler und Restaurantbetreiber füttert seine Hausmöwe mit Sardellen, Fritten und sonstigen Lieblingsspeisen.
Desweiteren gibt es noch Kormorane und Reiher, insgesamt also vornehmlich Vögel, die größere Mengen Kot zu fabrizieren imstande sind. Der Istanbuler hat immer ein Auge am Himmel. Desweiteren gibt es noch Spatzen. Andere Vögel habe ich eher selten angetroffen. Einmal sah ich einen Hahn. Das war vor einem Hauseingang in einer Seitengasse in Cihangir. In der Fußgänger-Unterführung zum Ägyptischen Basar (Mısır Çarşısı) fliegen künstliche Vögel über den Türen der gläsernen Lädchen unermüdlich ihre Runden durch die Laserlichter. Eine Schnur hindert sie am Entkommen. Sie sind bunt angemalt und kosten 10 YTL. Am Galataturm sah ich einen künstlichen Vogel in Freiheit. D.h., ich sah zunächst in das entrückte Gesicht eines Hippies, der zugleich tänzerisch einen Flug nachzuahmen schien. So etwas habe ich schon oft gesehen, nicht selten war solcherlei Verzückung nur aufgesetzt, bzw. auf-Teufel-komm-raus selbstinduziert. Doch als ich dem Blick dieses Hippies folgte, schien mir seine Ekstase durchaus gerechtfertigt: Ein stilvoll kriegsbemalter Kunstvogel schwirrte durch die Lüfte. Mal flügelschlagend, mal segelnd, erfreute er sich, in selten gesehenen Flugkapriolen, zwei drei Meter über den Köpfen der Passanten, seiner Freiheit. Das ging minutenlang. Der Hippie wies uns Passanten auf den Vogel hin und rief ihm, beinahe zwitschernd, sanfte Freudenbezeigungen nach. Die meisten Passanten hatten freilich besseres zu tun, als den Hippie zu beachten. Der Vogel stürzte schließlich um zwei Ecken davon in eine Gasse.
Genau dieselbe Gasse übrigens, in der ich erstmals Palmtauben gesehen hatte. Damals beäugten wir uns gleichermaßen kritisch (wobei es heißt, Tauben besäßen kaum mehr als ein Spatzenhirn), die Palmtauben machten zumindest auf kritische Außendarstellung, was in diesen schnelllebigen Zeiten ja meist schon zureichend Eindruck schindet. Wir redeten nicht viel, sondern beließen es beim Beäugen. Heute grüßen wir uns, ohne zu äugen. Die Macht der Gewohnheit schwemmt vieles Unausgesprochene schnell unter den Tisch.