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Your Time Is My Rolex

“The raven is smoking. The raven smokes all night. It smokes and smokes and smokes,” trumpets Andreas Fischer’s kinetic sculpture Rabenrohr (Raven’s Mouthpiece) while it knocks impatiently on the floor and moves on the spot. Rabenrohr, which consists of a mega-phone atop a pole, has formed part of the Museum Ludwig’s collection since 2007, and from the outset its insistently reiterated words have aroused visitors’ curiosity.

The Museum Ludwig surveys Andreas Fischer’s mechanical works in the exhibition Your Time Is My Rolex. The artist, who was born in 1972, uses motors and microprocessors in combination with found materials and objects, including armchairs and workmen’s tools, to construct sculptures that move and speak. Depriving the components of their original purpose, he incor-porates them into new contexts that grant them a different, narrative significance.

In the form of humorous mechanical parodies of human beings, the apparatuses act, complain, and accuse, obsessively telling fruitless existential tales or engaging in futile dialogues repeated ad nauseam. The machines repeat their motions and routines in endless loops, never breaking through into something different, and constantly reiterate their words, whether in soliloquies or dialogues, without reaching a meaningful conclusion.

Wirds Bald (Get a Move-On) blares out the words “It’ll get better, it won’t get better,” as a shooting apparatus repeatedly takes aim at an unidentifiable target but always jams before firing. Embodied in a machine, the all-too-human nature of the scenario has an unsettling effect on the spectator, generated by an apparent determinism that, through repetition, arouses a desire to break out of the vicious cir-cle.

Jasmina Merz

Museum Ludwig, Cologne
December 01, 2012 – March 17, 2013
Opening: November 30, 2012, 7 p.m.

Topkapı

Den Topkapı-Palast kannte ich bereits aus Köln-Bilderstöckchen. Es handelt sich dabei um einen gleichnamigen Döner-Imbiß unterhalb der beiden Hochhäuser, bzw. eine Pizzeria, die ich nie betreten habe, weil mir hinter den verglasten Scheiben eine Spur zuviel hüzün, die türkische Tristesse, lauerte. Als ich wenige Tage vor meiner Abreise nach Istanbul an den Hochhäusern von Bilderstöckchen vorüberradelte, erinnerte mich das Namensschild des Grill-Restaurants an den wunderbaren Spielfilm Topkapi mit Melina Mercouri, Maximilian Schell und Peter Ustinov, den ich, kaum in Istanbul angelangt, im Netz anschaute. So kam es, daß ich den originalen Topkapı-Palast mittels eines raffinierten Zeitsprungs zuerst im Jahre 1964 sah.

Der Film beginnt mit einer psychedelisierten Jahrmarktszene, sowie einer Führung durch das Serail. In beiden Auftaktszenen stellt Melina Mercouri sich als Diebin vor, die den berühmten (oder erst durch den Film richtig berühmt gewordenen) smaragdbesetzten Dolch aus der Palast-Schatzkammer zu stehlen beabsichtigt. In einer Reihe schnell geschnittener Bilder folgt ein Istanbul-Mosaik, das mich in diegleiche Stimmung wie „Zorn des Meeres“ von Yaşar Kemal versetzte: überladene Lastenträger auf der alten Galatabrücke, Holzhäuser und pittoreske verbrechentriefende Bosporusecken in träumerisch verschwommenem Technicolor – klassische Mosaiksteine, parfümiert mit aufregenden Abenteuerdüften, Mosaiksteine, die im heutigen Stadtzentrum rar geworden sind und die mir bereits zu Beginn meines Aufenthalts zu einer wehmütigen Erinnerung verhalfen, einem herzhaften Trugbild, einem Vorab-Abziehbildchen, das ich hinterher in meinen Setzkasten mit den besterhaltenen Klischees aus aller Welt aufnahm.

Regisseur Jules Dassin zitiert in Topkapi fortab sein Meisterwerk Rififi, Peter Ustinov glänzt in der Rolle des schmierigen Schmocks, Melina Mercouri gibt die gierende Sexbombe mit rollenden Lippen und rauher Lache, Maximilian Schell („das muß doch irgendwie gehen“) das Schweizer Pfadfinder-Gentleman-Genie, der Plot entwickelt sich getragen, aber voller Wortwitz, einmal fällt auf Deutsch das mir bis dato unbekannte Schimpfwort „Scheißkopf“. Während eines großen Öl-Ringkampf-Fests macht sich die Diebestruppe auf den Weg zum Palast, um in gewitzter (und später in Mission Impossible adaptierter) Manier besagten Smaragddolch zu stehlen. Als ich einige Wochen später den Topkapı-Palast besuchte, mußte ich ständig auf die Dachkonstruktion schauen, in der Hoffnung, dort heutige Outlaws bei Kletteraktionen zu erblicken und der Schauspieler Ünal Silver erzählte mir, daß er als Junge bei Topkapi als Statist mitspielen durfte, weil er in Drehort-Nähe aufgewachsen war: „Ich bin da in irgendeiner Szene zu sehen, wie ich aus dem Bild laufe.“

Am Filmende verrät eine verirrte Palmtaube die Diebe, eine Pointe ganz nach meinem Geschmack, wo ich den Vögeln in Istanbul doch so ziemlich alles zutraue, weil meiner sturen Ansicht nach sie (und nicht Bürgermeister Kadir Topbaş) die Stadt regieren. Und gehört ihnen nicht längst alles, wonach die Menschen streben? So prüfte ich in Istanbul, das darf man keinem Vogel erzählen, Dutzende Aussichtspunkte und befand sie für gut. Die edelsten aller schönen Aussichten bietet zweifellos der Topkapı-Palast. Das Marmarameer und den Bosporus zu Füßen, den Seerosenteich und Prinzleins Bolzplätze, ließ ich unter der Goldkuppel des Fastenbrechen-Pavillons meine Gedanken zu sultanischen sich aufblähen: ungeheurer Besitztum, der unter Hauen und Stechen verteidigt und ausgeweitet werden muß, Angst und Allmacht, Kindermord und lyrische Mondnächte. Der Gedankenturban wurde mir schnell zu drückend und so lustwandelte ich davon und zerstreute mich, dieweil Gewitter übers Meer eilten, in den Palasthöfen.

Faszinierend fand ich neben der unübertrefflichen Lage des Serails seine kalligrafischen Kachelarbeiten, denen auch ohne Kenntnis der arabischen Schriftzeichen Bedeutungen zu entnehmen waren: verschlungene Sounds von einiger Göttlichkeit, gedrechselte Pegelschläge menschlicher Verzückung. Nie zuvor habe ich schönere Schriftkunstarbeiten gesehen. Im Beschneideraum ereilte mich die perverse Vorstellung eines riesigen Haufens Vorhäute. (Nach den endlosen Zeremonien würden sie in Schubkarren geschippt und zu geheimen Zwecken an schwierige Orte verbracht.) Im höchst geschmackvollen Bibliothekspavillon lungern langgestreckte Diwane und leergeräumte Regale („das paßt jetzt alles auf einen USB-Stick“) – was muß das für ein Lesen gewesen sein!

Die Kleinodien des osmanischen Nationalschatzes sind in abgedunkelten Vitrinen inszeniert, an denen die Besucher vorüberdefilieren müssen. Natürlich, den Dolch muß ich nun, wo ich den Film schon kenne, im Original sehen, und bitteschön auch den Löffelmacher-Diamanten, der einst auf einem Istanbuler Müllhaufen gefunden worden sein soll. Beide Exponate blinken kräftig! Bald stellt sich vor lauter Juwelen, Schmuck und Zierrat Übersättigung ein, zuviel Reichtum vertrage ich einfach nicht und betrachte stattdessen lieber die Menschen wie sie die effektvoll ausgeleuchteten Vitrinen betrachten, während ihr Strom mich hinfortzieht. Plötzlich stehe ich vor einem Schaukasten, in dem eine Art bronzelegierter Stock oder Ast zu sehen ist. Der Stab Mose lautet die Beschriftung. Kein Wort mehr, keines weniger. Ich bin baff. Mit diesem Werkzeug hätte ich an dieser Stelle nicht gerechnet. Könnte ich nur auf den Wunderknüppel zugreifen, würde ich umgehend die Menschenmassen teilen, um dem Palast schnellstmöglich zu entkommen. Doch er steckt hinter Panzerglas. Also tipple ich weiter im Gänsemarsch Richtung Ausgang. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich im Vorübertippeln sogar noch ein paar Bartstoppeln des Profeten gesehen.

Vom Essen und Trinken

Als Angehöriger des lyrischen Prekariats mit zweifelhaftem Budget ausgestattet, bin ich in Istanbul nicht sonderlich viel ausgegangen. Was Mahlzeiten belangt, agierte ich weit überwiegend als Selbstversorger in meiner kleinen, mäßig ausgestatteten Küche. Viele Zutaten der türkischen Küche hatte ich bereits in den vergangenen Jahren in meinem Kölner Kaufsaray gefunden und zuhause getestet, andere, etwa Hammelhoden, mochten sie auch noch so halal geschlachtet sein, ließ ich bis heute aus. Fisch ist in Istanbul günstiger als Fleisch, das freute mich und die Händler am Fischmarkt von Karaköy. Durch mein unsichtbares Auge erblickte ich mich regelmäßig mit einem Säckchen fangfrischem Bonito oder Garnelen beim Erklimmen des Galatahügels. Was mir sonst noch besonders gefiel:

– İçli Köfte, konisch auslaufende, frittierte Bulgurkugeln, mit Fleisch und Zwiebeln gefüllt. Google Translate fand die schöne Übersetzung „Empfindlicher Klops“. Schwer ergründliche, sehr orientalische Gewürzmischungen runden diesen wunderbaren Snack.

– Çerkez Tavuğu, das berühmte tscherkessische Huhn, kommt als pürierte Paste aus Hühnerfleisch, Walnüssen, Paprika, sowie weiteren Grundzutaten und Gewürzen. Eine perfekte Vorspeise.

– Midye Dolma sind gekochte und mit gewürztem Reis gefüllte Miesmuscheln. Sie werden mit einem Spritzer frischer Zitrone serviert. Die Muscheln können am Straßenrand stückweise geordert werden, der Verkäufer präpariert Tier um Tier und reicht die geöffneten Schalen einzeln an.

– İmam Bayıldı sind fein mit Gemüsen und Gewürzen gefüllte, geschmorte Auberginen. Sie werden als Vorspeise oder Beilage gereicht und schmecken einfach nur großartig. Der Name des Gerichts bedeutet denn auch „Der Imam fiel in Ohnmacht“.

– Tantuni: in mächtigen Spezialpfannen gegarte, raffiniert geradeaus geschärfte Rind- oder Kalbfleischwürmchen mit Tomaten, Zwiebeln, Petersilie in Yufkateig gerollt. Dazu wird Salat aus Rauke, Brunnenkresse und Sauerampfer gereicht. Sollte eines Tages den deutschen Döner ablösen.

Von türkischem Döner, dessen Machart sich vom deutschen in zentralen Punkten unterscheidet, hielt ich mich fern, zumal mein Nachbar einer schweren Dönervergiftung erlag. Zwar feierte er nach zwei Tagen bereits Wiederauferstehung, doch in der Zwischenzeit machte er einen wahrlich gespenstischen Eindruck. In den türkischen Döner gelangt eher wenig Fleisch (und doch genug, um zu überschlagen, daß die billigen Stückpreise ungute Rückschlüsse auf die Grundqualität nahelegen), zumeist vom Huhn, desweiteren Fritten, Gewürzgurken, Mayonnaise und ähnliche Überraschungen. Das Konkurrenzprodukt ist ein horizontaler Spieß, Kokoreç. Um einen Fettkern werden Lammdärme gewickelt und angeröstet. Sind die Darmschnüre außen schön kross, werden sie abgehobelt, zerkleinert und mit Zwiebeln und Tomaten serviert. Obgleich ich als Kind durchaus Affinität zu „Sauren Nierchen“ und insbesondere zu Hühnerherzen besaß, halte ich mich heute bei Innereien meist zurück.

Was ich als Kind hingegen ablehnte, war Milchreis, den ich in Istanbul in seiner Ausprägung als Sütlaç beinahe täglich mit Begeisterung löffelte. Überhaupt war ich angetan von den Desserts: Tavuk Göğsü und Kazandibi sind klebrige Reismehlpuddings, im erstern Fall mit Hühnerfasern untermengt. Berichtet wurde mir von Aşure, einer suppen- oder auch klumpenartigen Süßspeise aus Bohnen, Kichererbsen, Rosinen etc, die zu Festanlässen bereitet würde und das erste Gericht, das Noah nach Verlassen der Arche seinerzeit als Resteessen verteilt habe, gewesen sein soll. Ganze Ladenzeilen widmen sich in Istanbul der Süßwarenversorgung. Es gibt europäisch anmutende Zuckerwerkläden mit Profiteroles und Tiramisu sowie grell überzogenen, mit heftigen Geliermitteln gesteiften Törtchen, und dann wieder Baklava-Bäcker mit ihren sirupgetränkten Auslagen und Lokumstände, durch deren vielfältige Proben sich zu naschen einen schönen türkischen Sport vorstellt.

In meiner Straße hatte gerade ein Restaurant eröffnet, dessen Programm die türkische Variante von „Futtern wie bei Muttern“ darstellte. Dort gab es Linsen-, Brennessel-, Joghurt- und Hackbällchensuppen mit oder ohne Reiseinlage, und zu den gefüllten Gemüsen auf Wunsch einen kräftigen Schlag Naturjoghurt, ein Produkt, auf das die Türken sich deutlich besser als wir Deutschen verstehen. Das Restaurant unterschied sich von einem klassischen türkischen Arbeiter-Schnellimbiß (Lokanta) eigentlich nur aufgrund seiner ökomensalastigen Einrichtung und dem entsprechenden Publikum.

Worauf die Türken sich deutlich schlechter als die Deutschen verstehen, ist Bier. Auf der Zutatenliste des türkischen Premium Pils Efes ist der verdächtige Begriff Şeker (Zucker) gelistet, auf dem Wein lasten 70 Prozent Steuern, das heißt ein türkischer Wein um 10 Euro ist ordentlicher deutscher Supermarkt-Ware um 3 bis 4 Euro vergleichbar: der türkische Weinbau findet statt und befindet sich im cabernetkopierenden, vanilligen Aus- und Aufbau. Was ich nicht zu testen bekam, war das Wintergetränk Boza, ein leicht vergorenes Bulgursäftlein, über das sehr widersprüchliche Aussagen bestehen. Dafür probierte ich Şalgam, einen recht präsenten, angeblich höchst gesunden, fermentierten Steckrübensaft mit kräftiger Chilinote, der zu Fisch, Fleisch und Rakı getrunken wird, wobei er halbwegs Sinn macht – ohne Fisch, Fleisch oder Rakı ist er höchst entbehrlich. Salep schließlich ist ein Heißtrunk auf Basis zerstoßener Knabenkrautwurzel und, darin wohl Boza ähnlich, von unterschiedlichster Konsistenz und Geschmack (meine Nachbarin meinte: spermaartig), ich erwischte auf der Fähre eine vanillemilchige Version, die nach Fertigmischung roch und wohl für Kinder gedacht war.

Mimikry

In meinen Istanbuler Anfangstagen mußte ich mich daran gewöhnen, nicht ständig den Bosporus mit dem Rhein zu verwechseln. Insbesondere mit Kölner Bekanntschaften war schnell „von der anderen Rheinseite“, bzw der „Schääl Sick“ die Rede, wenn wir vom asiatischen Teil der Stadt sprachen und gleich bei meiner ersten Istanbullektüre fand ich heraus, daß solche Redensarten nicht erst seit gestern kursieren. Der französische Reiseschriftsteller Théophile Gautier hat in seinem Buch „Constantinople“ den Istanbuler Stadtteil Kadiköy bereits vor 200 Jahren mit Köln-Deutz verglichen, weil beide zwar „auf der falschen Seite“ lägen, dafür jedoch den beachtlichen Vorteil böten, das jeweilige Stadtpanorama zu überschauen.

Vergleiche und Verwechslungen drängten sich in Istanbul zahlreich auf. Vor allem, als die Eigenarten der Stadt für mich zwar spürbar, aber noch nicht faßbar waren. So querte ich in der Nacht meiner Ankunft ein Aquädukt, das mir wie eine optische Täuschung vorkam, weil ich es aus purer Fahrlässigkeit sonstwo, nur nicht in Istanbul erwartet hätte, dieweil der blaue Leuchtflitter am Straßenrand mich in westafrikanische Tropennächte versetzte. Wo genau war ich soeben gelandet? Als der Flughafenbus die beleuchteten Moscheen der Altstadt passierte, schoß mir durch den Sinn, welch ein Aufhebens die Kölner um ihre einzige Kathedrale machen. Als es auf den Taksim zuging sah ich mich plötzlich am Nguyễn Huệ-Kreisverkehr in Saigon, nur daß statt der dortigen Mopeds hier keuchende Yellow Cabs die Straßen bis knapp vor Stillstand bekrochen. Da war rasanter Weltstadtmix, Orient und Dunkelheit, aus der, all meinen Tropengefühlen zum Trotz, noch in derselben Nacht Frau Holles beste Schneeflocken herabsinken sollten.

Auf Weltstadt folgte Provinz. Am nächsten Morgen, als ich zu Fuß an den dicht bei dicht stehenden Sardellen-Anglern auf der Galatabrücke vorüberschlenderte, fielen mir sofort ihre Kollegen am Kieler Hafenbecken ein, samt ihren Klagen wie selten die Ostsee-Sprotte geworden sei. Die Makrelen für die Fischbrötchen, die mit zünftig-oktoberfestigem Osmanen-Bowhow am Anleger von Eminönü verkauft werden, stammen zum Großteil frisch aus Norwegens Fjorden. Daß Oceanliner mitten durchs Stadtzentrum fahren, hatte ich das erste Mal im südfranzösischen Städtchen Sète erlebt und erinnerte mich in einem maritimen Sprung an den Gondoliere auf der Brüsseler Straße in Köln, der in Ermangelung touristisch besuchter Kanäle seine Gondel kurzerhand auf Rädern durch das Belgische Viertel schob und dazu einen der grausigsten Gesänge anstimmte, der je auf Venezianisch versucht worden sein dürfte. Obgleich ich in den Straßen häufig brüllende Händler oder auf ihren Sohlen die Hänge hinabschliddernde Müllsammler entdeckte, scheinen mir die Istanbuler im Kern, das sage ich als Wahlkölner, zurückhaltende Menschen. Selbst nach großen Fußballsiegen feiern sie eher mechanisch, aber laut und ihre Freudenschüsse sollen jede Saison einige unvorsichtige Balkonnutzer töten.

Der Ruhrpot(t) hat sich gleich selbst als Sprayschablone importiert, Kiefern bleibt!-Spuckis vermitteln Düsseldorfer Heimatgefühle. Das von meiner Dachterrasse jeden Abend zu beobachtende Feuerwerk erinnert an Las Vegas, die Bosporusöffnung zum Marmarameer an Konstanz und den Bodensee – letzteres behauptete zumindest eine Begleitung, die sich nur wenige Minuten später auf einer der Prinzeninseln ob der Pinienwäldchen auf Mallorca wähnte. Auf der Istiklal Caddesi wird ebensoviel Deutsch gesprochen wie auf der Schildergasse. Welche der beiden Flaniermeilen welcher nachempfunden ist, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Aber nein, das Vorbild beider ist ja Paris. Die Abflußrinnen am Fischmarkt von Karaköy ermunterten einen Besuch, von den Freiburger Bächle zu erzählen. Derjenige, der in diese Bächle hineintappt, heißt es, müsse in Freiburg heiraten. Ob das in Istanbul auch so sei? „Probieren Sie`s aus“, fiel mir nur ein, „wahrscheinlich verkaufen morgen dann Sie mir hier den Fisch.“

Die Außenbezirke, die ich nicht für mich erschloß, gemahnten auf dem Screen des Busfensters an extensive Vervielfältigungen von Halle-Neustadt. Das Burj al Arab habe ich gesehen, aber seinen Standort vergessen. Vielleicht ist es auch schon wieder abgerissen, das wäre nicht ungewöhnlich. Ganze Viertel verschwinden in Istanbul über Nacht, wie das legendäre Roma-Viertel Sulukule, wir kennen das von Rungholt und Vineta. Zwar ließe sich sagen, erstere Zerstörung sei Menschenwerk und zweitere Sache der Natur. Doch inwieweit lassen sich Mensch und Natur trennen? (Und falls es einen steuernden Gott gibt, dann steuert er vermutlich auch die Politiker.) Der Galataturm, hörte ich von einer Kunststudentin, sei „so ähnlich wie der schiefe Turm von Pisa, nur nicht schief“. Die ersten Wochen fühlte ich mich meist sowieso in Lissabon, Porto oder Coimbra: die Hügel, die Gassen, die Fischgerichte. Von Zigaretten ausgemergelte Männer und fantastische Süßspeisen. Nur daß die Saudade in Istanbul Hüzün heißt. Im Winter lag eine depressiv-halbstolze Stimmung über der Stadt, genau wie ich sie aus Portugal kannte. Ob sie nun im Juni immer noch vorhanden ist, kann ich aus lauter Gewöhnung gar nicht mehr beurteilen. Wahrscheinlich schon. Am Ende habe ich sie sogar verinnerlicht. Das Gewitter gestern erschien mir jedenfalls verdächtig melancholisch. Was ist überhaupt anders, wenn ich sowieso ein Anderer ist? Nach einer Weile habe ich einfach aufgehört, Vergleiche anzustellen, um das weite Feld des interkulturellen Humbugs denjenigen zu überlassen, die neu in die Stadt kommen. Ohnehin bin ich bald wieder fort. Und ein Stückchen Istanbul (als Istanbul) nehme ich dann, für keinen Zollbeamten der Welt aufspürbar, einfach mit mir mit.

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