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Vom Fliegen

Written by My Invisible Eye on . Posted in Explore, My Invisible Eye

Beeindruckt hat mich die explosive osmanische Luftfahrtgeschichte und ihr Verpuffen in den Angsträumen der Macht. Ihre Existenz war mir völlig unbekannt. Meiner Schulbildung zufolge hatten die Marken der Aeronautik im Wesentlichen Daedalus und Ikarus, Leonardo da Vinci (der auch eine nie umgesetzte Brücke übers Goldene Horn entwarf), die Brüder Montgolfier, der Schneider von Ulm, Otto Lilienthal und die Brüder Wright gesetzt – eine ziemlich westliche, und im Speziellen sehr deutsche Sichtweise. Wenn ich mich recht erinnere, war der einzige Schulstoff, der mich je mit dem Osmanischen Reich konfrontierte ein Kanongesang, demzufolge wir Erstklässler nicht zuviel Kaffee trinken sollten wie die nervenschwachen, kranken, koffeinsüchtigen Muselmanen.

Am Galataturm erblickte ich eine Bronzetafel, die den Flugpionier Hezarfen Ahmet Çelebi ehrt. Nach ein wenig Recherche fand ich die knappen Zeilen des Chronisten Evliya Çelebi, welcher Hezarfen Ahmets Flug in seinem Reisebuch (Seyahatnâme) auf 1632 datiert: „Am Anfang übte er, indem er acht- oder neunmal, den Wind nutzend, mit Adlerflügeln über die Kanzel von Okmeydanı flog. Dann, als Sultan Murat IV. von der Sinan Pascha-Villa in Sarayburnu zusah, flog er von ganz oben vom Galataturm und landete mithilfe des Südwestwinds am Doğancılar-Platz in Üsküdar. Daraufhin belohnte Murat IV. ihn mit einem Sack Goldmünzen und sagte: „Dies ist ein furchteinflößender Mann. Er ist fähig zu erreichen, was er will. Es ist nicht richtig, solche Leute zu behalten“, und sandte ihn ins Exil nach Algerien. Dort starb er.“

Auf diesen Zeilen gründet also die Legende des weltersten Interkontinentalflugs. Zwar wird dem Autor ein Hang zur Übertreibung nachgesagt und ein erfahrener Drachenflieger, den ich auf der Turmbrüstung um seine Einschätzung bat, zeigte sich überaus skeptisch, was das Erreichen der anderen Bosporusseite mit einem modernen Gleitschirm beträfe, doch ist Hezarfen Ahmet Çelebi aus dem türkischen Volksflugempfinden nicht mehr wegzudenken. Die illegalen Ornithopter-Händler von Kuledibi variieren seine Geschichte gegenüber den Touristen, nicht zuletzt auch auf Basis des Spielfilms „Istanbul Beneath My Wings“ (İstanbul Kanatlarımın Altında) von Mustafa Altıoklar.

Der Film von 1996 packt die historische Notiz in eine erweiterte Dramaturgie: Hezarfen Ahmet gelangt über eine venezianische Sklavin an Leonardo da Vincis verschlüsselte Vogelflugstudien, dieweil Sultan Murat IV. die halbe Stadt abschlachtet, um die ausufernde, beinahe kölsch-katholisch wirkende Dekadenz einzudämmen. Istanbuls Sittenbild äußert sich in Bootsnächten auf dem Bosporus, Gelagen, Intrigen, taumelnden Omar Khayyām-Zitationen und wohlbekannten Möwentönen. Die europäische Inquisition spiegelt sich in Drangsalierungen Hezarfens (der Beiname bedeutet in etwa „Vielgelehrter“). Der geistliche Berater des Sultans hält Flugversuche für gottesfremd. Hezarfen kommentiert die Nachricht von Galileis Prozeß: „Ein Wissenschaftler darf nicht widerrufen!“ Sultan Murat IV., der mit Massenexekutionen gegen Opium-, Alkohol-, Kaffee- und Tabakkonsum vorging, vermeldet der Abspann süffisant, soll mit 27 Jahren an Leberzirrhose gestorben sein.

Doch noch einmal zurück zum Anfang. Oben erwähnte Westentaschen-Ahnenreihe der Luftfahrt legt auffällig viele innerfamiliäre Interessensparallelen nahe, zumal auch Otto Lilienthal gemeinsam mit seinem Bruder Gustav an Flugmaschinen bastelte. So gesehen erstaunt es wenig, daß Ahmet Çelebi einen flugbegeisterten Bruder besaß: Lagâri Hasan Çelebi. Äußerst erstaunlich ist dessen Leistung. Ein Jahr nach der Bosporus-Überquerung seines Bruders Ahmet, schoß sich Lagâri Hasan als welterster Rocketman gen All. Er wolle mit Jesus im Himmel sprechen, gab er als vernünftiges Grundziel an. Um es zu erreichen, soll er einen raketenartigen Spezialanzug gefertigt haben, den er mit Schwarzpulver füllte. Innert 20 Sekunden ging sein Flug von Sarayburnu 300 Meter steil in die Lüfte, behauptet die zeitgenössische Berichterstattung (erneut: Evliya Çelebi). Den anschließenden Fall in den Bosporus soll Lagâri Hasan mit einem Schirm abgedämpft und überlebt haben. Auch er wurde zunächst vom Sultan belohnt und dann verbannt.

Woran erinnert mich all das? Ist es nicht am Rhein neuerdings üblich, daß zu Christi Himmelfahrt vatergewordene Jesusse, wenn schon nicht in die Stratosfäre, so doch, von Spirituosen beflügelt, in außergewöhnliche geistige Höhen aufsteigen, um mit salafistischem Bodenpersonal zu debattieren? Oder bringe ich da gerade etwas durcheinander? Der Himmel über Istanbul ist heuer jedenfalls nicht mehr von Raketen- und Vogelbrüdern bevölkert. Es patrouillieren dort Möwen und gelegentlich Hubschrauber, während im Hintergrund ein majestätischer Airbus vom Sabiha Gökçen Flughafen abhebt oder auf dem Atatürk Flughafen landet. Urbane Fluggefühle stellen sich ein im Türk Balon Cafe in Kadıköy, das an schönen Tagen bis 100 Meter über den Meeresspiegel emporsteigt, ein wenig auch in den Seilbahnen vom Maçka Park und in Eyüp, stets jedoch auf meiner abendlichen, vogelumkreisten Dachterrasse. Und manchmal sehe ich von dort schaudernd eine Sternschnuppe in den Bosporus fallen und einen überflüssigen Fisch erschlagen, der drunt im Wasser zuviel Unsinn gepredigt hat.

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